TAG 17: 10.08.2002 ||| DIE RÜCKKEHR

Die Saale im Herzen von Jena: Hier sieht meine Heimatstadt ein klein wenig nach Frankreich aus.

Losung am 10. August: Ich möchte Weltenbürger sein, überall zu Hause und überall unterwegs.“ (Erasmus von Rotterdam)

An Tag 17 geht es zurück nach Hause von Wertheim über Würzburg nach Jena.


In Wertheim am Main musste ich kein Zelt aufbauen, denn genau dort auf dem Campingpatz, auf dem Dauer-Stellplatz M20 steht der Wohnwagen meiner Eltern, dessen Vorzelt ich gerne für das Finale meiner Reise nutzte, was mir angesichts des Dauerregens durchaus sehr entgegen kam. Hier hatte ich bereits im Kindesalter im Kreise meiner Familie oft die Ferien verbracht, wenn es nicht nach Italien, Frankreich, Holland oder Skandinavien ging. Links das Freibad mit seinen Verlockungen, unten der Fluss voller Transportschiffe, deren schwere Dieselmotoren mir immer noch ebenso unüberhörbar wie vertraut klingen, oben trohnt die Burg über dem Tal, rechts liegt die Stadt am Zusammenfluss von Tauber und Main. Wie eine winzige, deutsche Europametropole liegt Wertheim genau an der Grenze zwischen Bayern, Hessen und Baden-Württemberg, sozusagen als kleiner Schmelztiegel dieser fränkischen Region.

Als 10- / 11- / 12-Jähriger Bub hatte ich viel Wissen in Bücherform in mich verschlungen, darunter die „Kleine Weltgeschichte für die Jugend“ von Polt und Achleitner, Heyerdahls „Kon-Tiki“, „Die erste Entdeckung Amerikas“ von Ingstad. Damals, in den 1960er Jahren, war ich ein passiver Forscher gewesen, dem am Beispiel Wertheims vieles klar wurde: wie Handel und Industrie funktionieren, welcher Fluch für die Menschen Hochwasser sein kann oder wie herzlich militärische Besatzer empfangen werden können, wenn sie aus dem USA kommen und damit der zweite Weltkrieg endet. Ich könnte nun noch viel über Wertheims Historie schrieben, aber das mache ich nicht, denn die nördlichste Stadt Baden-Württembergs ist mit ihren landschaftlichen Schönheiten immer einen eigenen Besuch wert.

Mehr als drei Jahrzehnte nach der Entdeckung meines Forscherdrangs sollte in Wertheim meine erste aktive Entdeckungsreise zu Ende gehen und das zwar gerade jetzt in diesem Moment. Kurz vor sechs Uhr stand ich auf und sitze kaum dreißig Minuten später in meinem Auto bereits am Laptop und bereite mich darauf vor, eine kurze Bilanz der 17 Tage Europa zu ziehen. Gegen 10 Uhr fahre ich dann nach Hause, werde gegen 13 Uhr in Jena ankommen und bevor ich dort über die Reise berichten werde, heißt es, nach den Geschichten (… was gestern geschah …) nun die Tage und Erlebnisse zu sortieren. Also:

1.) Der IBM-Laptop 760 E, mein elektronisches ThinkPad, war mir ein zuverlässiger Begleiter in den letzten siebzehn Tagen, manchmal vielleicht ein bißchen zu lässig, denn es gab keinerlei technische Probleme. Strom kam überwiegend vom 12V / 220V-Spannungswandler und während der Autofahrten lud sich dann auch die Autobatterie des Mercedes stets wieder voll auf. Auch der 300 E bereitete mir nicht die geringsten Probleme, trotz der rund 4.700 Kilometer zurückgelegter Strecke. Zudem hielt mein Zelt dicht und die Reisekasse hatte immer genug Reserven … für alle Fälle. Vielleicht sollte ich für die spätere Leserschaft noch einmal erwähnen, dass es den Euro noch nicht einmal ein halbes Jahr lang als europäisches Zahlungsmittel gab.

2.) Auch mit meinem schwarzen Parker-Füller habe ich vieles aufgeschrieben, darunter Briefe an meine Nichte Ina (… die auch schon mal auf dem Hausboot der Kelly Family für Femilienmitglieder gekocht hatte …), da sie sich vor der Reise allgemein bei mir darüber beklagt hatte, dass sie so wenig Post von mir bekommen würde. Und jetzt hat sie gleich drei Briefe von mir aus 17 Tagen Europa erhalten, mit verschiedenen Briefmarken darauf, alle mit Beträgen in Euro und doch alle unterschiedlich in Aussehen und dem jeweiligen Porto. Zumindest hier ist Europa also noch nicht zusammengewachsen.

Auf mein Mitsibishi Smartphone-Handy schickte sie mir aus Hamburg eine SMS, dass alle Briefe gut bei ihr angekommen sind und mein rat an sie ist, diese Briefe nach Möglichkeit aufzuheben, denn wer weiß, was sie später noch einmal wert sein könnten. Und die Währung braucht dabei noch nicht einmal Geld zu sein – Erinnerungen sind manchmal viel mehr als Gold wert. Meine Familie und einige andere Menschen aus meinem Umfeld bekamen ebenfalls Briefe von mir. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich nahezu jeden Tag etwas geschrieben oder abgeschickt – das Paket mit bereits beim Absenden duftendem Käse hatte ich bereits früher erwähnt. Ich möchte nicht wissen, was der Postbote beim Abliefern meiner Frau zu erzählen hatte.

Blick vom JenTower nach Jena-Nord: Unten zu erkennen sind das Planetarium und der Botanische Garten, darüber das sog. „Damenviertel“ und auch das Wohnhaus meiner Famile ist in der Ferne zu erkennen.

3.) Mein Handy war während der Dauer meiner Reise im Übrigen fast immer ausgeschaltet gewesen. Hier gab es anfangs technische Probleme und dann hatte ich überhaupt schwere Bedenken, es einzuschalten wegen der horrenden Roaming-Gebühren.

(Anmerkung: Für die in späterem Jahren geborenen Leser meines Reiseberichts darf ich versichern, dass es im Jahre 2002 in Europa in jedem Land eigene Telefonanbieter gibt und die rauben ausländische Telefonkunden aus, sobald diese ihr Handy einschalten. „Roaming“ nennt sich das System des modernen Raubrittertums und als reisender Europäer ist man froh, hin und wieder noch auf das gute, alte Münztelefon zu treffen … das ihnen aber nun wahrscheinlich gänzlich unbekannt sein dürfte.)

Sich bei der „Außenwelt“ zu melden, während einer Reise, ist natürlich obligatorisch und ich tat es tatsächlich via Münz-Telefon (siehe meine Erlebnisse in Amsterdam), aber vor allem durch meine Briefe, Postkarten, Reisegeschichten. Schließlich waren meine 17 Tage weder eine Flucht à la Goethe gewesen, noch eine Entdeckungsreise wie bei James Cook sondern vielmehr der Versuch, Dinge, Menschen, Landschaften kurz nach dem Jahrtausendwechsel ganz subjektiv mit einander zu vernetzten und dadurch ein klein wenig besser zu verstehen.

4.) Für meine direkten Familienmitglieder habe ich aus Frankreich, Deutschland und Holland verschiedenste Wurst und Pasteten, Käse und Wein mitgebracht (wohlgeschützt in einer, ebenfalls mit 12 Volt betriebenen, Kühlbox) und einige andere Sachen. Die liegen im Moment noch in einer Kiste, die heute Abend hoffentlich in froher Erwartung ausgepackt werden wird.


17 TAGE EUROPA (… einmal ganz anders betrachtet …)

Europa ist wertfrei betrachtet ein Subkontinent, der mit Asien zusammen den Kontinent Eurasien bildet. Historisch und kulturell begründet dagegen betrachtet es sich selbst als eigenständigen Kontinent und zwar bezogen auf historische, kulturelle, politische oder wirtschaftliche Aspekte. Ich wollte mit meinem Reisetagebuch ein wenig auf die ideelle Einheit hinweisen, sozusagen in der Art einer Reise des Verstandes wie sie einst Dante Alighieri in „Die göttliche Komödie“ ezählte. Denn in einer Zeit, in welcher dem Menschen Teile seiner Kultur und Gesprächsführung abhanden gekommen zu sein scheinen, in der in vielen Medien Floskeln und Phrasen von gut un-informierten Fragern fast schon als Versuche zu werten sind, Freundschaften zu schließen anstatt kritisch zu berichten (… im Übrigen unter der strikte Abkehr vom alten Grundsatz Hanns-Joachim Friederichs: „Immer dabei sein, nie dazugehören.“ …) – in einer solchen Zeit hat man seinen Verstand ganz einfach auch einmal auf Reisen zu schicken. Basta!

Deshalb fehlt mir nach knapp zweieinhalb Wochen Fernseh-Pause auch kein einziges TV-Interview, keine Quizshow, kein Nachrichtenüberblick. Gute Filme, die fehlen mir schon, aber die kann man sich im Leben immer noch einmal ansehen. Wohlwollend durfte ich feststellen, dass das Radio auf der Reise nach wie vor kein antiquiertes Informationsportal ist. Auch wenn ich – egal wo immer auf diesem Planeten – die Informationen der ganzen Welt jederzeit auf einem Bildschirm zur Verfügung haben könnte: ich würde mich immer wieder für das Radio entscheiden. Und genauso wie die Zeitung mehrere Jahrhundertsprünge ohne größere Schäden überstanden hat, wird auch das Radio zukünftig wohl kaum Schaden nehmen. Allein, weil der Äther immer existieren wird und es so einfach ist, Radiowellen durch ihn und über ihn auf eine Reise in unsere menschlichen Ohren zu schicken.

Als Gegenleistung kann der Empfänger wiederum, wenn er sich die richtige Quelle aus dem Äther fischt, viel aus ihr schöpfen. Geistig verdursten braucht heutzutage niemand. Doch: Jeder Mensch bekommt die Quelle, die Erleuchtung, den Radiosender, die TV-Sendung, das Buch, das er / sie / es verdient. Und jeder ist frei zu wählen, ob er kaltes klares Wasser zu sich nehmen will oder vielleicht einen Cocktail aus Waldbränden in den Vereinigten Staaten / Australien / Griechenland, gemixt mit verschwundenen Babys / Gewaltverbrechen / ausgebrannten, schamlosen, millionenschweren SängerInnen in Dessous / Scheidung / Drogenrausch und abgeschmeckt mit sportlichen Fehl- und / oder Höchstleistungen, unmoralischen oder liebenswerten Politikern oder anderen Gesinnungsnomaden. Nebenbei bemerkt geht der Name „Europa“ auf das altgriechische „Europē“ zurück, eine Kompositum aus Begriffen wie breit oder weit und Sicht oder Gesicht. Sprachwissenschaftler gehen sogar davon aus, dass sich der Begrff des Abendlandes für Europa phonetisch aus dem phönizischen Wort „erebu“, sinngemäß für „im Westen geht die Sonne am Abend unter“ ableiten könnte.

Ach ja: Gute eigene Musik hat mir ebensowenig gefehlt, denn der Plan meiner Reise war, dass mich hierbei keine einzige selbst gespielte Note vom Schreiben abhalten sollte. Gute Bücher hatte ich, mit Ausnahme meines alten DDR-Lexikons und Hesses Betrachtungen und Gedichte in „Bäume“ (…„Von Heimat, Garten, Haus und Baum ist nichts geblieben als mein Traum.“ …) keine mit dabei gehabt, denn ich hielt es da mit Kafkas Franz, der 1904 in einem Brief an Oskar Pollak feststellte „Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben.“ – Der Erwerb der beiden Hesse-Bücher aus der Wertheimer Buchhandlung Moritz und Lux sei mit anlässlich seines 40. Todestages ausdrücklich verziehen.

Der Verfasser 1980 beim Konzert seiner Band Velvet Universe mit verschiedenen Synthesizern

Jeder Mensch hat die freie Auswahl bezüglich dessen, was er mit seiner Zeit anfangen will, sollte aber bereit sein zu akzeptieren, dass vieles, was uns heutzutage als „Das wahre Leben“ verkauft wird, nichts anderes ist als mentale Popmusik: Kreischend, intensiv, machmal atemberaubend, gelegentlich aufgeilend … aber morgen schon wieder vergessen und deshalb vom Grunde her unwichtig. Oder wie ich so gerne sage: nicht lebensnotwendig! Ja, gut, immer wird sich auch irgendjemand finden lassen, der attestiert, dass das, was uns die Medien vermitteln, eine erlaubte Ironisierung unseres Lebens sei. Dabei wird jedoch ganz oft vergessen zu erwähnen, dass das, was sich gerade eben im Moment um uns herum abspielt, unser eigenes Leben ist.

Und wirklich jeder Mensch kann jederzeit sein Leben und dessen Umstände selbst beeinflussen. Er muss dazu nur seinen Verstand auf Reisen schicken. Schauen Sie sich nur den Film „Magnolia“ an, in dem es gegen Ende so stark regnet, dass Frösche vom Himmel fallen. Gut, im Moment scheint es mir da draußen vor meinem Mercedes auch fast so zu sein, aber auch wenn es keine Frösche regnen wird darf Sie bitten, sich den Kernsatz dieses Films von Paul Thomas Anderson gut zu merken, der da heißt:

„Wir haben vielleicht mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“

Also … in diesem Sinne …

Rainer Sauer (Wertheim am Main im Sommer 2002)

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