TAG 3: 27.07.2002 ||| ANLEITUNG ZUM GLÜCKLICHSEIN

Losung am 27. Juli: „I’m gone fishing, sounds crazy I know. I know nothing about fishing, but just watch me go. And when my time has come, I will look back and see: Peace on the shoreline, that could have been me.“ (Christopher Anton Rea)

Location: Chalon-sur-Saône


Es ist Samstag in Chalon-sur-Saône, schön, warm, ruhig, und heute, an diesem geschenkten Tag, bedarf es nur weniger Dinge um glücklich zu werden, zumindest wenn man von auswärts kommt und Chalon als Gast erleben darf. Die Liste zum Glücklichsein kann auf dem Weg durch die Stadt beim Einkauf abgearbeitet werden und falls man etwas vergessen haben sollte, dann kann man dies in Chalon selbstverständlich – wie überall in Frankreich – auch sonntags einkaufen. Und dies ist die (Einkaufs-)Liste zum Glücklichsein:

Chalon sur les rives de la Saône 2002-07-27

a) Gutes Wetter – soll heißen: etwa 29°C und wolkenloser Himmel mit leichtem Wind (… das kann man sich natürlich nicht kaufen, denn es ist unbezahlbar …)
b) ein Baguette (… bei Verständigungsschwierigkeiten können es auch leicht zwei oder drei werden …)
c) Musik der Kapelle „Le Jours de Fete“ mit ihrer „Hommage à Jaques Tati“ (… gerade frisch erworben in Chalon als CD …)
d) leicht gesalzene Butter (… die hierzulande „Beurre demi-sel“ heißt …)
e) eine Flasche „Cotes du Roussillon Villages“ (… obwohl man als Kurzzeit-Lokalpatriot sicherlich auch einen Wein der Region wählen könnte …)
f) ein Glas für eben diesen Wein und g) ein weiteres Glas für Tafelwasser (… beide etwa zu 3/4teln gefüllt …)
h) ein scharfes Messer (… sehr scharf und damit gerade richtig für …)
i) ein etwa 200g wiegendes Stück „Saucisson sec pur Porc“ und zwar möglichst abgehangen und deshalb möglichst hart und teuer (… aus einer Boucherie Charcuterie in der rue de la Citadelle …) weswegen man das sehr scharfe Messer benötigt – ich denke, man wird mir diesen Tipp noch danken
j) die obligatorische Schachtel „Gitanes“ (… bitte, bitte, bitte niemals solche mit Filter!)
k) eine schattige Hecke am Ufer der Saône, sowie
l) jede Menge Zeit um der Musik zu lauschen und den vorbeifahrenden Lastkähnen oder Wasserbobs (… von denen ich gerade Tonaufnahmen mache …).

Da können in der Ukraine noch so viele Menschen bei einer Luftfahrtschau umkommen – hier und heute und jetzt bin ich glücklich. Und es reift tief in mir eine Erkenntnis, die da lautet: später, wenn ich alt bin und an mein Leben zurück denke, dann werde ich mich möglicherweise an diesen einen Nachmittag erinnern und feststellen, dass ich damals am Ufer der Saône, weit weg von Zuhause, genau in diesem Moment, in dem ich darüber nachdenke, vielleicht wirklich ICH gewesen bin. Und dadurch habe ich mir diesen Moment des Glücklichseins über die Jahre konserviert gehalten.

Ich denke, dass ich an dieser Stelle erwähnen sollte, dass ich meine Europa-Reise dann doch nicht so ganz alleine absolviere, da mir eine fünfzehn Jahre junge Dame namens Sofie Amundsen auf jedem Kilometer Autobahn und Landstraße folgt – oder ich ihr – und wir gemeinsam mit Hilfe des Cassettenrekorders meines Mercedes die Geschichet der Philo-Sophie erkunden.

Was mich zu einer Geschichte führt, die hier erzählt werden soll. Es ist eine Geschichte aus meinem Zyklus „Terra Pi“ (… Jostein Gaarder möge mir meine Inspiraterie verzeihen …). Es ist mir heute fern, zu erahnen, ob es mein Herr Pi bis zu dem Zeitpunkt, an welchem Sie diese Zeilen hier lesen, zu einer größeren Bekanntheit gebracht hat, so dass man seine Vorgeschichte nicht mehr zu erzählen braucht, aber ich gehe dieses Risiko ein. – Soviel sei verraten: Unser Protagonist lebt in einer zukünftigen Zeit, schafft es nicht, sich ihr anzupassen und denkt sich deshalb seine eigene Welt zurecht. Es folgt …

WIE PI VIER TAGE LANG VOM TEUFEL HEIMGESUCHT WURDE (… UND WAS ER DABEI ÜBER SEIN LEBEN LERNTE)

Am ersten Tag, an dem Pi vom Teufel heimgesucht wurde, bemerkte er dies zuerst gar nicht. Pi hatte Heidelbeermarmelade gekauft. „Mit 60 % echten Heidelbeeren“ stand auf dem Etikett. Echte Heidelbeeren gehörten zu Pi‘s Leibspeise. Als kleiner Junge hatte er von fast allen Heidelbeerfeldern Dänemarks Früchte gekostet. Blaubeeren hatte sein Vater sie damals genannt. Jetzt, wo er selbst schon ein Vater war, nannte er sie bei ihrem richtigen Namen, weil er sich stets bemühte immer alles beim richtigen Namen zu benennen.

Jeden Tag fragte sch Pi aufs Neue, wo er einkaufen könne und er hatte sich über die Jahre eine ganze Armada von Möglichkeiten geschaffem. Heute hatte er sich für den MonoMart entschieden und stand dort nach eben diesem Glas Marmelade an. Als er endlich ans Regal heran kam, waren ndort ur noch drei verschieden Sorten Marmelade vorrätig. Echte Erdbeere, das war obligatorisch und echter Pfirsich auch. Aber die dritte Sorte, die variierte von Mart zu Mart und Woche zu Woche. Heute war es tatsächlich seine gliebte Heidelbeermarmelade. Und es war davon auch nur noch eine einzige Dose im Regal. Pi griff sofort zu.

Als er zurück in seinem Appartement war, öffnete er die Marmeladendose augenblicklich. Es duftete auch sofort nach Heidelbeeren. Pi nahm einen Löffel und kostete. Herrlich, dachte er. Heidelbeeren: der Kaviar der Dünen. Er konnte sogar jede einzelne Beere herausschmecken. Wo kommen denn heutzutage noch so viele Heidelbeeren her, dachte Pi. Aus Midtjylland bestimmt nicht mehr. Gibt es im Wald bei Hvide Sande überhaupt noch genügend Heidelbeerbüsche? Aber dann zog Pi seine Stirn in Falten und die Falten sendeten neue Fragen an sein Gehirn. Wer sagt mir eigentlich, dachte sich Pi, dass die Heidelbeeren in meiner Dose überhaupt aus Europa kommen? Vielleicht kommen sie auch aus Brasilien oder China, wie so viele Dinge heutzutage und Pi sah mit einem Mal alles ganz klar: Bestimmt hat man in Brasilien wieder ettliche Quadratkilometer Regenwald zerstört, in China Menschnmassen zwangsumgesiedelt, nur um jetzt Heidelbeeren anzupflanzen. Pi stellte die Dose in seiner Kühlbox ab. Von einer Sekunde zur anderen hatte er die Lust am Kaviar der Dünen verloren.

Das war der erste Tag, an dem ihn der Teufel heimsuchte und, wie schon Genesis uns weissagten, es war „A trick of the tail“ – heißt: Pi bemerkte es nicht einmal.

Am zweiten Tag, an dem Pi der Teufel heimsuchte, wollte er drei Briefe schreiben. An seine Cousine, seine Tochter und an den Belgier. Das Briefpapier hatte er schon bereit gelegt, aber nun suchte er seinen Füller. Pi schrieb immer mit einem Füller. Damit dies auch problemlos möglich war, besaß er glech drei identische schwarze Rialto Füller. Am Morgen hatte Pi mit einem der drei noch eine Tintenzeichnung gemacht und auf der Rückseite Titel, Tag und Ort vermerkt. Danach hatte er den Füller in die schwarze Hülle aus weichem Leder gesteckt, den roten Kugelschreiber dazu getan und das Etui dann weggelegt. Wo hatte er es hin getan? Pi war am Verzweifeln. Es konnte doch nicht plötzlich weg sein. Niemand außer ihm wusste, dass er Briefe nur mit diesen schwarzen Rialto-Füller schrieb. War er verschwunden, nahm er die Nummer 2 und wenn beide verschwunden waren, die Nummer 3.

Natürlich hatte er hunderte anderer Schreibgeräte, aber hunderte anderer Schreibgeräte nutzten ihm wenig, wenn er seine Briefe nur mit diesem einen Füller schreiben konnte. Denn es war ja nicht nur dieser Füller, der seine Art des Schreibens ausmachte. Es war auch die Tinte im Füller. Die bekam man nur in ausgewählten Schreibwarengeschäften. Und nun waren alle drei Rialto-Füller mit schwarz-blauer Permanenttinte verschwunden. In ganz Europa gab es seines Wissens nach nur zwölf Dependancen, in denen man Permanenttinte in schwarz-blau zu kaufen bekam.Weiß der Teufel, wo diese Tinte überhaupt noch hergestellt wird und weshalb so wenig.

Weiß … der Teufel? – Pi blickte auf. Konnte der Teufel etwas mit dem Verschwinden seiner schwarzen Lackfüllers zu tun haben? Zwei Stunden hatte er nun schon gesucht. Kein einziges Wort war bisher geschrieben. Gestern erst die Sache mit der Blaubeermarmelade, nein, der Heidelbeermarmelade. Und heute nun die verschwundenen Füller. Pi hielt es jetzt zumindest für möglich, dass der Teufel ihn ausgewählt hatte um ihn zu prüfen. Doch war es nicht eigentlich Gott, der einen Menschen auswählte um ihn durch den Teufel einer Prüfung auszusetzen? Pis Gedanken drehten sich im Kreise, als er weiter nach wenigstens einem der Füller suchte. Noch hatte er Zeit; es war Samstag und die Post würde erst am Montag aufmachen. Aber es war wie verhext … „Entschuldigung“, sagte Pi laut und es war das erste Wort, dass er seit Stunden gesprochen hatte. Nicht verhext: verteufelt! Nirgends waren der Füller Nummer 1, das Etui oder der rote Kugelschreiber zu entdecken. Auch von Nummer 2 und 3 keine Spur. Pi suchte noch den ganzen restlichen Tag und den Abend und doch war in seinem Appartement keine Spur der verschwundenen Gegenstände zu entdecken.

Das war der zweite Tag, an dem ihn der Teufel heimsuchte und Pi ahnte bereits etwas.

Am dritten Tag, als ihn der Teufel heimsuchte, wachte Pi bereits um vier morgens Uhr auf. Nein, dachte er sich, ich werde dem Teufel, falls er an dieser Sache beteiligt ist, den Gefallen nicht machen und sofort nach dem Füller suchen. Ich werde still liegen bleiben bis zum Frühstück und erst nach dem Frühstück mit der Suche beginnen. Vielleicht könnte sich Pi ja auch einen weiteren schwarzen Rialoto-Füller kaufen, dachte er. Vor wenigen Monaten hatte das geklappt. Sein alter Füller Nummer 1 war unbrauchbar geworden und er fand tatsächlich einen echten schwarz-lackierten Rialto Füller mit den goldenen Applikationen. Ohne groß zu sichen im erstbesten Schreibwarengeschäft. Genau der gleiche Typ, die gleiche Feder, das gleiche Aussehen. Nur die Kappe war etwas anders, aber das war nun wirklich kein Problem für Pi, denn er hatte ja noch die Kappe seines alten Füllers.

Pi stand auf und suchte sein Geld. Er bewahrte Geld und Kreditkarten immer in einem Brustbeutel auf. Gestern Abend hatte er diesen ausgezogen und in seine Schlafecke gelegt. Jetzt war auch noch der Brustbeutel weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Aha, sagte sich Pi, schon der dritte Tag, an dem mir etwas Ungewöhnliches passiert. Holla Teufel! Was hast Du mit mir vor? Holla Gott! Warum wirfst Du seit Tagen für mich Bananenschalen aus? Womit habe ich die Ehre der beiden Herren verdient, dachte sich Pi und suchte den restlichen Tag sein gesamtes Appartement ab. Groß war es nicht, nur 25 Quadratmeter, weshalb er die verschwundenen Gegenstände doch schon lange hätte finden müssen. Und nun tat ihm auch noch der linke Arm weh, präziser ausgedrückt der kleine Finger an der Hand des linken Armes. War dies eine weitere Prüfung Gottes oder des Teufels für ihn oder was hatte das jetzt mit der Angelegenheit zu tun?

Das war der dritte Tag, an dem Pi der Teufel heimsuchte und jetzt war er sich sicher, dass es so war. Vielleicht, so dachte Pi, war es des Teufels bislang größter Geniestreich, dass er die Menschen dazu gebracht hat, zu glauben, dass es ihn überhaupt nicht gibt. „Aber nicht mit mir“, schrie Pi. „Zeige Dich mir!!!“

Am Morgen des vierten Tages, an dem Pi vom Teufel heimgesucht wurde, wachte er auf und mit einem Mal waren alle verschwundenen Dinge wieder da. Füller 1, Füller 2, Füller 3, das Lederetui, der rote Kugelschreiber und sein Brustbeutel mitsamt des Inhalts. Dafür waren nun seine gesamten Lebensmittel verdorben. Gestern Abend hatte Pi die Kühlbox ordnungsgemäß verschlossen, aber als er am Morgen zu ihr ging, um sich die Dose mit der Blaubeermarmelade zu nehmen und wieder ein wenig zu kosten, stand die Tür der Kühlbox offen. Einen Spalt nur, aber genug, damit die gesamte Kühlbox warm werden konnte. Das Thermometer in ihr zeigte 24 Grad Celsius.

Pi verschloss die Tür der Kühlbox, aber als sie nach einer Stunde wieder öffnete, waren es in ihr 31 Grad Celsius geworden. Kein Zweifel: Die Kühlanlage der Box war in der Nacht heiß gelaufen, war kaputt gegangen und nun heizte sie anstatt zu kühlen. Pi blieb nichts anderes übrig als über das Datennetz eine neue Kühlbox zu bestellen. Seine neue Kühlbox kostete fast ein Drittel mehr als die alte, die er erst vor wenigen Monaten gekauft hatte. Kurz vor Sonnenuntergang lieferte ihm TOI die neue Kühlbox. Pi amüsierte sich über den Namen der japanischen Herstellerfirma: TOI. Die kannte er sonst nur von den öffentlichen Toilettenanlagen. Da sagte man sich schon einmal sicherheitshalber „Toi, toi, toi“, wenn man sie betrat, denn es kam hin und wieder vor, dass sie anfingen, sich selbst zu reinigen, während der Kunde noch sein Geschäft erledigte. Aha, dachte sich Pi, die stellen inzwischen auch Kühlboxen her. Als der Bote gegangen war, ließ er sich von der Kühlbox die Bedienungsanleitung vorlesen und laß zur Sicherheit auf dem an der Vorderseite der Kühlbox angerachtem Display mit. Die Benutzung war ja gar nicht so kompliziert, dachte Pi und im Nu hatte er sich durch die verschiedenen Menus der Kühlbox navigiert. Als ihm der letzte Satz vorgelesen wurde, blickte Pi wie erstarrt auf das Display. Dort stand geschrieben: „Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit ihrem neuen Kühlbox-System TOI FL“ und so sagte es auch die Stimme der Kühlbox. In diesem Moment wurde Pi so einiges klar.

Nicht nur, warum die TOI-WC-Anlagen so oft Eigenleben entfalteten. Auch warum seine ganze Misere mit einer Dose echter Heidelbeeren angefangen hatte: die letzte Dose, die verführerisch in einem Kühlregal gestanden hatte – da brauchte Pi gar nichts mehr nachzuprüfen – war wohl auch vom TOI-Konzern hergestellt worden. Dann die Sache mit dem Füller und dem Brustbeutel, die mit einem feigen Mord an seinen Lebensmitteln endete. Nun war alles klar: Der Teufel hat heutzutage nun mal ganz andere Methoden als noch vor 500 Jahren. Damals musste Belzebub in eine Jungfer einfahren, die er dann vier Nächte lang nackt um eine Buche tanzen ließ. Heute, dass wusste Pi nun, legt der Teufel Wert auf die Details, je er steckt manchmal sogar darin, und arbeitet mit tiefenpsychologischen Tricks. Und bei ihm, Pi, waren es die Erinnerungen an Heidelbeeren gewesen, die Idee, diese besser in der Kühlbox aufzubewahren anstatt sie gleich aufzuessen, dann die Behinderung des Briefeschreibens und schließlich die Verhinderung unnötiger Geldausgaben, weil er ja kurz darauf die neue Kühlbox TOI FL kaufen sollte. Schließlich kappte der Teufel auch noch die Lebenserhaltungsysteme seiner alten Kühlbox. Alles passte zusammen.

Pi war sich sicher, dass der Teufel ihn so sehr manipuliert hatte, dass er, Pi, für alles selbst verantwortlich war. Sich die Aufnahmen der Nachtkamera anzusehen, wer die Tür der Kühlbox wirklich geöffnet hatte, ersparte er sich. Er selbst war es gewesen, war alles gewesen. Der Teufel dagegen war reingewaschen, hatte ein millionenfaches Alibi in den öffentlichen WC-Anlagen dieser Welt. Ihn brauchte Pi also erst gar nicht zu verdächtigen. Ein wahrhaft teuflischer Plan war es, dass sich derTeufel aus allen heraushielt und die Menschen sich selbst überließ. So etwas passiert wahrscheinlich jede Minute und überall in meiner Welt, dachte sich Pi und wusste, dass es schwer sein würde die „Terra Pi“ zu ändern.

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