Re|sü|mee auch: Ré|su|mé oder: Re|süm|e = Zusammenfassung, Fazit, Übersicht. – Ich sitze gerade in Berlin in einer Wohnung in der Offenbacher Straße (… die vor langer Zeit auch Heimat war für Peter Zadek …) und habe noch einmal mein elektronisches Reisetagebuch von 2002 aufgeschlagen. Konvertiert von der alten Festplatte auf eine neues, moderneres Thinkpad, das inzwischen von Lenovo hergestellt wird und aus China kommt, da die International Business Machines Corporation ihre Laptopsparte vor einigen Jahren dorthin veräußert hat. Mein heutiges ThinkPad hat einen Fingeradruckscanner, der es auf mich personalisiert, 10 Stunden Akkulaufzeit und dank einer SIM-Karte plus Datenflatrate könnte ich rund um die Uhr im Internet online sein. Mein Fotoapparat ist nicht mehr von Carl Zeiss sondern von zoom, nimmt auch Videos auf in 4K Qualität (… ich hoffe, dass in 2042 noch weiß, was für ein Standard das einmal war …) und ich habe sogar zwei davon nebeneinander montiert für Stereoaufnahmen.
Das war vor zwanzig Jahren völlig anders und, würde ich meine Reise heute unternehmen wäre die möglicherweise allein wegen des Laptops anders verlaufen. Oder wegen des Handys. Denn heute könnte man damit ebenfalls im Internet surfen, kann via WhatsApp, Facetime oder Zoom per Livevideo mit der Familie Kontakt halten und vor allem nach Lust und Laune preiswert telefonieren. Das führt mich für einen Moment zu der Frage, ob es heutzutage in Saintes-Maries-de-la-Mer, Colmar oder Amsterdam überhaupt noch öffentliche Telefonzellen gibt. Aufgenommen habe ich alle Fotos der Reise übrigens noch „Old School“ auf Negativ- oder Dia-Film. Erst später im Jahre 2002 begann ich mit elektronischen Fotos.
Doch: so ist der Zeitgeist. Während die Großeltern noch an die Würstchenbude gingen, die Eltern in die Pizzeria und die Enkel zu McDonalds, lassen sich die Urenkel jetzt Essen via Liefrando nach Hause bringen. Aber das sind die Seitenarme der Milchstraße, in denen ständig etwas neues passiert. Man sieht es ja an einem selbst, wie man sich äußerlich und innerlich über die Jahre ändert. Beständigkeit findet man nur dort, wo man näher zum Kern der Dinge vorstößt. Wie auf einer Schallplatte kann man sich ganz langsam zur Mitte hin bewegen und manchmal während dieser Rillen-Reise einfach nur staunen.
Es gibt eine Redensart, die da heißt: „Um zur Quelle zu gelangen, muss man gegen den Strom schwimmen.“ So ist es, denn ohne Anstrengung hat man selten Erfolg – sie gehört im Leben mit dazu, körperlich wie geistig. Nur so hält man seine Hülle und den Denkapparat zugleich in Schwung. Dagegen ist eine andere Redensart und zwar „Wenn ich das damals gewusst hätte …“ eben so müßig wie sinnlos. Niemand kann vor Jahrzehnten wissen, was genau wann in der Zukunft geschehen.
2002 gab es Ende Juli in Lemberg das tragische Unglück bei einer Luftfahrtschau und doch hatte niemand bis vor Kurzem eine Ahnung davon, welche Probleme die Ukraine 2022 zu bewältigen haben wird. Dass aktuell Krieg in Europa ist und Russland der Agressor, davon konnte sich bei meinem Besuch in Verdun wohl auch kein Mensch eine Vorstellung machen. Ebenso überraschend wurde 2014 im Mittelmeer das Wrack des Flugzeugs, mit dem Antoine de Saint-Exupéry 1944 tödlich verunglückte, gefunden. Dass die Bayreuther Festspiele 2020 wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurden ist dagegen (von Covid-19 einmal abgesehen) nicht weiter ungewöhnlich, denn zwischen 1882 und 1944 fielen die Festspiele insgesamt 16 Mal aus.
Auch das Wettergeschehen ist heute anders als noch vor 20 Jahren. Während im August 2002 Deutschland, Tschechien und Österreich unter der „Jahrhundertflut“ litt, ist der Sommer 2022 europaweit der heißeste und regenärmste seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen. Mit all seinen schlimmen Nebeneffekten – eine Art Dauerterror durch Hitze. Aber auch hier zeigen sich zwei Konstanten: 1.) nichts mehr, was wir in der Vergangenheit als sog. „verlässliche Konstanten“ kennen gelernt hatten, ist heutzutage sicher und mdie Menschen können nur stets das Unerwartete erwarten. 2.) Der Klimawandel ist omnipräsent mit Hitze, Dürre, schweren Regenfällen, Sturm und immer größeren Schäden. Damit konnte keiner meiner historischen Protagonisten aus „17 Tage Europa“ rechnen. Wir müssen es.
Mein Resümee der Europareise von 2002 lautet also: Das, was in meinem Reisetagebuch zu lesen und nachzuerleben ist, bleibt zeitlos.
In diesem Sinne
Rainer W. Sauer, Berlin am 11.08.2022