TAG 7: 31.07.2002 ||| PRINZENWETTER

Losung am 31. Juli: Es gab einmal ein Zeitalter – es war das griechische – da war der Mensch das Maß aller Dinge. Heute sind die Dinge das Maß aller Menschen.“ (Werner Finck)

Heute unterwegs von Saintes-Maries-de-la-Mer nach Arles/Orange/Lyon/Mâcon/Chalon-sur-Saône


Armaturenbrett des Mercedes 300E bei Saintes-Maries-de-la-Mer am 31.07.2002

Es ist Mittwoch und die Sonne brennt nun schon den sechsten Tag, der Wind, der hier in Frankreich Mistral genant wird, bläst immer stärker, alles ist voller Staub und so fahre ich am späten Morgen von der Mittelmeerküste wieder gen Norden, denn da soll es ab Mittag laut „Le Figaro“ bewölkt sein; ein bisschen weniger Sonne, das könnte mir schon gefallen. Und so geht es zurück schon um 7 Uhr Richtung Burgund, nach Chalon-sur-Saône. Die Hektik des ‚Sud‘ hinter mir lassend bin ich wieder mal auf einer Landstraße unterwegs – ich habe ja Zeit und die Autoroute kostet schließlich Maut. Während die Landschaft nahe Lyon an mir vorbei zieht bewegen sich meine Gedanken hin zu Antoine de Saint-Exupéry, der in Lyon geboren wurde. Er war auch nach Norden unterwegs, die Sonne und den Staub hinter sich lassend und es war – welch ein Zufall – ebenfalls an einem 31. August. In seinem Aufklärungs-Flugzeug war er damals von der Insel Korsika Richtung Norden zur französischen Cote d‘Azur gestartet und kehrte nie mehr von diesem Flug zurück. Seine Geschichte des kleinen Prinzen hatte er da bereits geschrieben, aber 1944 war sie wegen des Krieges den Menschen noch nicht wirklich bekannt.

Mir wurde die Geschichte Anfang der 1970er Jahre im Religionsunterricht von Pfarrer Manteuffel nahegelegt und seine angehenden Konfirmanten durften raten, welches Tier sich wohl unter einem Hut verbergen könnte. Ich war begeistert von Saint-Exupérys abstraktem Denken. Die Idee zur Geschichte über den melancholischen Prinzen – von dem ich vom ersten Moment an instinktiv wusste, dass es „Saint-Ex“ höchstselbst war – sei ihm gekommen, so berichtete er später, weil Exupéry nach dem frühen Tod des Vaters (dieser starb, als er vier Jahre alt war) von seiner Umwelt stets wie ein kleiner Prinz behandelt wurde. Jeden Sommer durfte er Monate auf einem Schloß in Savoyen verbringen und im Winter war er in Südfrankreich an der Cote d’Azur. Er sei sich in dieser Zeit tatsächlich manchmal wie ein kleiner, verwöhnter Prinz vorgekommen und was lag da näher, als eine seiner Erzählungen von einem kleinen Prinzen handeln zu lassen, der Gespräche mit einem Piloten führt – es wurde sein Weltbestseller. Material für die Geschichten hatte er zuhauf, da er gerne Selbstgespräche führte, während er auf Alleinflügen war.

Antoine wollte Erfinder werden, Dichter oder Pilot. Die riesigen Ländereien seiner Familie wollte er mit einem ausgeklügelten Bewässerungssystem versehen – akribisch und exakt plante er dies. Und „Saint-Ex“ lernt fliegen, damit er alles von oben aus besser sehen kann. Da Fliegen aber gelegentlich lange dauert und manchmal auch sehr langweilig sein kann, denkt er sich beim Fliegen Geschichten aus mit amüsanten Titeln wie „Autobiographie eines Zylinders“. Antoine de Saint-Exupéry schreibt die Geschichten nach der Landung auf in kleine Hefte.

Ärgerlich, dass man sie zuerst nur zur Kenntnis nimmt, um seine völlige Ignoranz der Regeln der Rechtschreibung zu kritisieren. Rechtschreibung? So etwas interessiert diesen unfassbaren Träumer nicht, der immer wieder aufs Neue darauf hinweist, dass das Wesentliche einer Geschichte für die Augen unsichtbar bleibt, weil es im Herzen oder im Kopf entsteht und dies lange bevor er es im „Kleinen Prinzen“ genauso niederschreibt. Er verlegt sich daher auf die schönen Künste, studiert Architektur und verdingt sich als Statist beim Theater. Seine wohlsituierte Familie unterstützt ihn Zeit seines Lebens großzügig, fördert jede, auch nur so kleine Neigung Antoines immer wieder aufs Neue.

Im Frühjahr 1921 wird er in die französische Armee einberufen und lässt sich – natürlich – einer Luftwaffeneinheit zuteilen. Diese ist im frisch von Deutschland eroberten Elsass stationiert. Nun gibt es zwei Sorten von Piloten, die einen haben Talent und zu den anderen gehört „Saint-Ex“. An ihm klebt der Ruf eines Bruchpiloten und so wird er schon bald nach Le Bourget versetzt. Unglaublich, denkt sich Saint-Exupéry: Schon wieder diese Ignoranz meiner Fähigkeiten. Versetzt nach Paris wurde er allein deshalb, weil er seinen ersten Alleinflug mit qualmendem Motor und angeschmorter Uniform beenden musste. Aber seinen Spitznamen hatte er nun weg: „Pique la Lune“ – der Franzose weiss, was damit gemeint ist … meine Definition eines „Träumers“ trifft es nicht einmal ansatzweise, denn es ist ein mehrfaches Wortspiel, darüber, dass die Form der Nase auf die Seele des Menschen schließen lässt und „… la Lune“ meint in seinem Fall „… mit der Nase im Mond! oder eben: Mit den Gedanken ganz weit weg. Sein Offizier ist sich jedenfalls sicher: „Der Kerl wird nicht im Bett sterben“.

Nach einem weiteren spektakulären Absturz, den er fast unversehrt überlebt, quittiert er schon 1923 den Dienst, versucht sich als Geschäftsführer einer Ziegelei, dann einer Autofirma. Doch wie öde und langweilig ist das! Also wechselt Antoine de Saint-Exupéry wieder zurück zur Fliegerei und wird Postflieger in Südamerika. Endlich findet er einen Freund, der auch seine Bücher mag: André Gide. Ihm schickt er alle seine Geschichten und längeren Werke. Dieser notiert 1931: „Antoine hat aus Argentinien ein neues Buch und eine neue Verlobte mitgebracht. Habe das eine gelesen, das andere gesehen. Habe ihn herzlich beglückwünscht.“

Im zweiten Weltkrieg sucht die „Grande Nation“ händeringend nach Piloten und da ist es egal, welchen Ruf sie haben, Hauptsache, sie können fliegen. So wurde „Saint-Ex“ freudig begrüßt, seine diversen Bruchlandungen bei Langstreckenrekordflüge oder im südamerikanischen Postdienst ignoriert und es darf neue, junge Piloten ausbilden. Dann wird Antoine de Saint-Exupéry auf Korsika stationiert. Und dort erlaubt er sich gleich einige Alleingänge, sprich: Alleinflüge, die das Militär nicht gerne sieht, aber es ist ja schließlich Krieg und bei der Luftwaffe braucht man jeden Mann. Am 31. Juli 1944 startet „Pique la Lune“ wieder einmal zu einem Aufklärungsflug ohne festes Ziel nannte und es wurde sein Flug in die Ewigkeit. Was hätte diser Mann mit seiner Phantasie der Welt wohl noch alles an verrückten Geschichten geben können, wenn er von diesemFlug unbeschadet zurückgekehrt wäre?

Bei meinem „Flug“ zurück in die Mitte Frankreichs stimmt diesmal die Richtung der Sonne für die Fotos und hinter Orange hole ich die Kamera wieder aus dem Versteck – man hatte mich schließlich vor Südfrankreich gewarnt: Die Menschen dort wären sehr arm, würden kaum etwas besitzen, dafür aber eine große Leidenschaft für das Fotografieren entwickeln, weshalb sie manche Dinge sehr, sehr, sehr gerne hätten. Mir kam jedenfalls nichts abhanden, ich konnte hier und da und dort anhalten, hatte bis frühen Nachmittag gleich drei Filme verknipst, darunter Kornfelder bei Lyon und die Brücke Pont Saint-Laurent in Mâcon, und war kurz nach 1 Uhr Mittags wieder zurück in Chalon. Wie schön kann es doch sein, eine flüchtige Bekannte wieder zu treffen und die noch frische Erinnerung nochmals auffrischen zu können. Deshalb nahm ich mir Zeit für einen literarischen Nachmittag und Abend mit gelegentlichem warmen Nieselregen bei 27 °Celsius, wobei ich das Geführ hatte, dass drei Viertel der Tropfen gar nicht den Boden erreichten und schon in der Luft verdurnstet sind.

Ich hatte also zu tun, das Theaterstück „Eichenlaub“ wollte fortgeführt werden (… nur so viel sei verraten: „Eichenlaub“-Regisseur Rainer W. Fassauer hat gerade live im TV ein Interview mit Bettina Ernst zu überstehen. Natürlich schaffte er das …) und trotzdem blieb noch eine Stunde Zeit vor den Sonnenuntergangum eine kleine Geschichte zu schreiben. Eine Episode aus dem Leben eines kleinen Prinzen, der sich von einer Schlange sein Rückflugticket geholt hatte und wieder auf seinem Asteroiden B 612 angekommen ist. Das war noch vor der Zeit, als Jean-Pierre Davidts auf ihn trifft, der anschließend Antoines Geschichte „offiziell“ weitererzählen durfte. Davids nannte sie „Le petit prince retrouvé“ und in seiner Geschichte erzählt er, wie der kleine Prinz auf die Erde zurückkehrt.

Ich jedoch erzähle in meiner Geschichte „Le retour à l’astéroïde B 612“ davon, wie ein kleiner Prinz zu allererst auf seinen Asteroiden zurückkehrt und was er dort erlebt. Ob es DER kleine Prinz ist, kann ich aus rechtlichen Gründen hier nicht sagen. Aber es ist EIN kleinen Prinz. Einige Episoden von „Le retour …“ hatte ich bereits vro einiger Zeit beendet. Hier in Chalon aber schrieb ich im Gedenken an den letzten Flug von „Saint-Ex“eine besondere Episode:

II.

»Nun war er also wieder auf dem Weg zurück zu seinem Asteroiden. Antoine, den Piloten, hatte er in der Wüste zurück lassen müssen. Aber das war nicht schlimm, da würde er schon wieder herauskommen, auch wenn seine Maschine dafür vielleicht nicht die beste Möglichkeit darstellte. Manches, was Antoine ihm erzählt hatte, verstand er nicht. Wieso ist es für einen Piloten das schönste, bei einem Nachtflug zu sterben? Antoine hatte ihm gesagt, dass man dann über sich die ganzen Sterne und unter sich seine geliebte Erde hat. Ein kleiner Prinz musste nicht alles verstehen, dachte er sich und er fragte sich, ob Antoine wirklich ein Buch über ihn schreiben würde und ob dann später in den Buch auch alles wieder zu finden war, worüber an sich unterhalten habe. Und so verging die Zeit und als es schon begann ihm langweilig zu werden, als er schon auf mehr als 720 Asteroiden die Schafe gezählt hatte, da kam er doch tatsächlich wieder zurück zu seinem Asteroiden.

Er erkannte ihn sofort, denn alles war noch so, wie er ihn verlassen hatte. Die Rose stand geschützt unter einer Glashaube, die Schlote der Vulkane hatten zwar etwas Ruß angesetzt, aber noch nicht genug, dass es für einen kleinen Prinzen unmöglich gewesen wäre, sie zu reinigen. Hier und da war etwas Falsches aus dem Boden geklettert und er konnte schon gut unterscheiden, ob es sich um Rosen oder Sprösslinge von Affenbrotbäumen handelte. Ein kleiner Prinz, dachte er, könnte die leicht in einer Stunde harter Arbeit mit seinen Händen herausreißen. Andererseits hatte er ja auch noch sein Schaf. Er holte Antoines Zeichnung mit der Schachtel hervor und sah nach dem Schaf.

Vorsichtig öffnete er die Schachtel. ‘Hallo, mein Schaf’ sagte er und fügte im nächsten Moment überrascht hinzu ‘…wie siehst Du denn aus.’ Das Schaf war während der Rese zurück auf den Asteroiden schwarz geworden. ‘Ich bin schwarz geworden.’ sagte das Schaf. ‘Ein kleiner Prinz sieht so etwas sofort,’ entgegnete er und fügte hinzu ‘…gab es dafür einen bestimmten Grund?’. Er machte sich bereits Vorwürfe, weil er vor seiner Abreise von der Erde an alles gedacht hatte, nur nicht daran, dass sein Schaf während der Reise schwarz werden könnte. ‘Daran ist meine Familie schuld.’ sagte das Schaf. Seit Generationen gibt es bei uns nur weisse Schafe. Sogar meine Schwester, die alles Talent hätte, ein schwarzes Schaf zu sein, ist am Ende trotzdem weiss geblieben.’ ‘Das erklärt immer noch nicht, weshalb Du schwarz geworden bist.’ sagte der Prinz ratlos.

Eine frühe Farbzeichnung aus dem „Der kleine Prinz“-Zyklus, die 2019 in der Schweiz entdeckt wurde. – Handout: SKKG

‘Mit Familien, musst Du wissen…’ sagte das Schaf ‘…ist es so: Auch wenn sie keine Schafsfamilien sind, hätten sie gerne, dass ein Mitglied der Familie ein schwarzes Schaf ist. Früher hat man einen Sündenbock gesucht und daraus wurde heutzutage das schwarze Schaf.’ ‘Das verstehe ich’, sprach der Prinz. ‘Und weil es bei Dir in der Familie kein schwarzes Schaf gibt, hat man beschlossen, dass Du es werden sollst.’ Er war froh, ein Schaf zu haben, das etwas besonderes war. ‘Und hast Du Dich darüber gefreut?’ fragte er das Schaf. ‘Darüber kann man sich nicht freuen’ sagte das Schaf streng zu ihm. ‘Ein schwarzes Schaf ist niemand gerne.’

Das Schaf sah, wie sein kleiner Prinz es ratlos anschaute und musste lachen. ‘Wieso schaust Du mich an, wie ein Schaf.’ Der Prinz beschloss, die Unterhaltung mit dem Schaf zu beenden. Wahrscheinlich wusste es noch nicht, dass es nun, da es schwarz war, ein besonderes Schaf geworden war. Außerdem schien albern zu sein. Auf der Erde war ihm das noch nicht aufgefallen. Was sagte es da zu ihm? Er täte es, obwohl er doch ein kleiner Prinz war, anschauen wie ein Schaf. Er fand das äußerst anmaßend von den Schaf, für das er doch so viel getan hatte. Und nun ist es auch noch albern geworden, nur weil er nicht daran gedacht hatte, es richtig zu beschützen. Ratlos und etwas eingeschnappt legte er sich schlafen.

Am Ende, dachte er sich so beim Einschlafen, würde vielleicht noch seine Familie kommen und ihm verkünden, er müsse unbedingt ein schwarzes Schaf werden. Ein schwarzes Schaf, ein schlafenden schwarzes Schaf, ein albernes anmaßendes schlafendes schwarzes Schaf. Dachte er und dann schlief er ein.«

„Rouge“ von John Burgess © 2002

Auch für mich geht der Juli 2002 in Frankreich mit einem Schlaf zu Ende. Mit Antoine de und Vincent van sind zwei Tote zu beklagen, die vielleicht noch etwas länger hätten leben können, wenn sie in ihren jeweiligen Leben manche Dinge anders betrachtet oder gewertet hätten. Oder wenn die menschen um sie herum sie anders gewertet oder betrachtet hätten. Aber hätten sie dann auch ihre unvergleichlichen Werke schaffen können? Die Antwort darauf, die kennt wahrscheinlich wieder einmal nur der, in Chalon am heutigen Abend immer stärker blasende, Wind. Morgen früh werde ich mein Zelt zusammenbauen und in Richtung Elsaß aufbrechen. Zuvor ist jedoch ein kleiner Abstecher zurück nach Deutschland geplant. Ein Paket mit frischem französischem Käse hatte meine Familie bei mir bestellt und das soll via Deutscher Post nach Hause gesendet werden. – Gute Nacht!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.