TAG 11: 04.08.2002 ||| MUSIQUE NON STOC, TECHNO POTT

Losung am 4. August: „La música ideas portará Y siempre continuará …“ / „Musik als Träger von Ideen und es wird immer weitergehen …“ (Hütter/Schneider/Bartos aka Kraftwerk)

Meine Reiseroute: Saarbrücken / Köln / Essen / Dortmund / Essen / BAB 3 Raststätte Hünxe


„Bei Saarbrücken fand ich den Ort meiner Europa-Reise, auf der am wenigsten los war.“ So werde ich es später bei Lesungen sagen – ich bin mir da, auch wenn es im Moment erst wenige Stunden her ist, bereits ganz sicher. Zum Abschluss der gestrigen Geschichte, hatte ich schon Douglas Adams zitiert und ich bleibe dabei, obwohl inzwischen die Sonne einen neuen Tag beleuchtet. Nur Trucker sagten sich hier an diesem Ort gestern Abend „Gute Nacht“, denn Fuchs und Hase waren da vor Langeweile bereits sanft entschlummert. Folglich findet man im Innern dieser Raststätte (deren Name ich hier lieber verschweige) alles, was dem Klischee nach „das Truckerherz“ begehrt: Blinkende Lämpchen, Fensterdekorationsartikel, kleine Fernseher, Schals mit Namen wie „Iveco“, „Werner“ oder „Türkei“, jede Menge Hefte mit armen Mädchen, die so arm sind, dass sie nichts weiter besitzen als Pömps oder High Heels und deshalb für Geld nackt posieren müssen, um zu überleben, umgeben von jeder Menge Chrom.

Es gibt CB-Funk-Accessoires, Kaffee pur, Kaffee als Dosengetränk, Kaffee in Schokoladenform, Kaffee als Tablette, Kaffee aus dem Automaten. Ich musste mich dabei ernsthaft fragen: sind Trucker denn tatsächlich so, wie es das Klischee vorgibt? Falls die Antwort darauf ein „Ja“ ist, dann erleben sie hier „Stille Tage im Klischee“, wie es Martin Buchholz in seinem 2001 erschienen Buch über „Expeditionen in die Tiefen des deutschen Hohlraums“ beschreibt: Treffer – versenkt!

Man wird es mir nachsehen, dass ich von hier aus möglichst schnell weiter nach Köln fahren mochte, um von dort aus rheinabwärts weiterzufahren. Natürlich hätte ich mich auch auf den Spuren der Römer bewegen können, die stets den Flüssen gefolgt waren: erst nach Trier an der Mosel mit der beeindruckenden Porta Nigra, bis nach Koblenz, dem Begegnungsort von Rhein und Mosel mit dem „Deutschen Eck“. Im Gallischen Krieg der römische Truppen unter Julius Caesar gegen die Germanen errichteten die Römer um 50 v. Chr. zwischen Koblenz und Andernach einen ersten Rheinübergang, ehe sie ein Stück weiter rheinabwärts die Colonia Claudia Ara Agrippinensium gründeten, die später vereinfachend nur noch Kolonie im Rheinland genannt wurde, woraus der Name Köln entstand. Aber die Römer und ihre europäischen Verbindungen soll durchaus einmal Thema einer späteren Reise meinerseits werden, weshalb ich am 4. August 2002 wie berichtet Köln unterwegs bin.

Festivalbesucher in Dortmund

Nach einem kleinen Zwischenhalt in der Domstadt, um mir das Areal an Groß St. Martin anzusehen (… dem langjährigen Wohnsitz des literarischen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch, der sich seit Ende letzten Jahres aus gesundheitlichen Gründen zurückziehen musste und bis auf weiteres nicht mehr mit seinen Programmen gastieren kann …), geht es über Essen weiter nach Dortmund in die bevölkerungsreichste Stadt des Ruhrgebiets: Ankunft am Sonntagmittag gegen 12 Uhr. Obwohl dort gerade – resp. so gegen fünf oder sechs Uhr am Morgen – im Westfalenpark die 7. Auflage des „Juicy Beats“-Elektromusik-Festivals zu Ende gegangen war (… man konnte es im den Uni-Radios der gesamten Region miterleben, wie mir or Reiseantritt übermittelt worden war. Ich allerdings kam hierfür leider einen Tag zu spät an …) waren in der gesamten Dortmunder Innenstadt, vor allem aber in Bahnhofsnähe, die Nachwirkungen der Technomusik auf den menschlichen Körper nicht zu übersehen:

Die Techno-Beats noch in den Köpfen, lagen überall Raver zwischen Beeten und Büschen, ihre Muskeln immer noch zuckend im Takt von 120 BPM, bei manchen auch zu 180 BPM. Ob dies wirklich die Antwort des Ruhrpotts auf die Berliner Loveparade sein soll, vermag ich nicht zu sagen. Noch dazu, wo heute mit Klaus Schulze einer der ganz Großen der Synthesizermusik-Szene seinen 55. Geburtstag feiert und Elektronikmusik aus meiner ganz persönlichen Sicht natürlich auch ganz anders klingen kann? Wirklich schade dass ich da gestern nicht mit dabei gewesen bis, aber Verdun und „Juicy Beats“ an einem Tag, das wäre wohl nicht gut gegangen. Und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben. Bei mir wr es eben dieser Rastplatz am Ende des Universums – alles hängt eben mit allem zusammen.

Was die schlafenden Raver betrifft: Ich würde mal sagen: 20 % schliefen friedlich im Freien in Blumenbeeten und Parkflächen, 40 % in der Chillout-Lounge des passenderweise technisch und zugleich kalt wirkenden Dortmunder Bahnhofsgebäudes, 30 % hüpften wie die Affen durch die Innenstadt und die restlichen 10 % hangelten von schlafwandlerisch Baum zu Baum und versuchten dabei, die unerwarteten Nebenwirkungen pharmazeutischer Präparate auszupendeln; einer hatte ein T-Shirt an mit dem einem großen Pfeil in Richtung Süden und dem Hinweis: „Dort Mund!“. Wenn man die Zahlen addiert, weiß man, weshalb man als Raver immer bereit sein muss, 110 % zu geben. Jedenfalls hatte „das größte deutsche Festival elektronischer Musik“, so die Eigenwerbung, tags zuvor 10.000 Besucher angelockt. OK, denke ich mir: Halb so viel wie erwartet. Der Regen am Nachmittag, so die Veranstalter im Ruhrpott-Radio, sei dafür verantwortlich gewesen. Klar, irgendeinen Grund gibt es immer und Wetter ist schließlich höhere Gewalt. Da braucht man sich dann offiziell keine Gedanken mehr über mögliche Veranstaltungsmängel zu machen. Nur noch um das in den Kassen fehlende Geld.

Weiter geht es am Nachmittag von Dortmund in die Niederlande. Auf dem Weg über die Autobahn höre ich weiter Radio und zwar bereits holländische Sender. Das ist Pflicht, denn die Niederlande haben ja schließlich eine echte Radiokultur vorzuweisen. Da gab es zum Beispiel einst mit „Radio Veronica“ den ersten echten Piratensender, der in den frühen Siebziger Jahren von einem Schiff außerhalb der 3-Meilenzone vor Hollands Küste all das sendete, was andere Radiosender nicht spielen wollten oder konnten. Bei „Veronica“ konnte man aber seinerzeit nicht nur Musik hören. Man bekam auch, jedenfalls wenn man gut zuhörte, alles erklärt, was man rund um die Musik wissen musste. Das war damals einmalig, gehört aber inzwischen zum Pflichtprogramm jedes guten Senders in Europa.

„A-U-T-O-B-A-H-N“ by John Burgess © 2001

Überhaupt, so stelle ich fest, erklären die Holländer ihren Zuhörern im Radio sehr viel. Wenn zum Beispiel in Israel eine Autobombe explodiert und Menschen sterben, dann ist diese traurige Nachricht den Radioleuten in Haarlem mindestens folgende Erklärung wert (Anmerking: De nachfolgende Word must von mir in Ermangeling van de Kenntnisse op de werkliche Worde nederländischer Sprak dramadisierend nachemfonde!):

„In Israel is vor wenigliche Stonde enne groote Explosioon geweese. Et san moglicherweise ooch einige doode zu verzähle. Man weerd aber noch de weidere Endwickling abwoorde missen. Det Explosioon est scheinbar von ener Bombe geweese, die in an Automobeil hat deponeert gesinn.“ Diese Art der jahrzehntelangen positiven Berieselung hat meiner Ansicht dazu geführt, dass die Menschen der Niederlande eine gute Allgemeinbildung und jede Menge Hintergrundwissen besitzen und die Dinge etwas gelassener sehen als sonstwo. Von den Entwicklungen im Sport und im Musik- und TV-Showbuisiness einmal ganz abgesehen.

Auch die Stufe der lockeren Radioberichterstattung, die man in den Niederlanden inzwischen erreicht hat, ist erstaunlich. In einer Reportage über Straßenmusikanten in Utrecht werden auch die Zuhörer befragt und die geben gerne Auskunft darüber, warum sie dem wackeren Musikanten nur 2 Cent gegeben haben. Mein Eindruck bleibt: Die Bewohnerinnen und Bewohner der Niederlande sind immer gut drauf und haben keine Hemmungen über alles zu sprechen. Tabus gibt es kaum und dabei kommt für mich als Deutscher das, was man sagt und empfindet, irgendwie nett über den Äther rüber.

Der Himmel über Hünxe kurz nach Sonnenuntergang am 4. August 2002

Am Abend bewege ich mich zwar am Niederrhein, bin aber noch nicht ganz in Holland angekommen. Etwas matter und müder als sonst bin ich – ob mich vielleicht die Schlafkrankeit der Raver befallen hat? Jedenfalls ruft inmitten meines Schädels Chris Reas Stimme dringend nach einer „Auberge“. Die Raststätte Hünxe kommt da wie gerufen, rasch noch ein Foto vom wundervollen Sonnenuntergang gemacht und dann lege ich mich erschöpft im Auto zur Ruhe. Schnell überfällt mich der Schlaf und ich träume von einem Autoradio, das immer und immer wieder Kraftwerks „Autobahn“ abspielt. So lange, bis es selbst zu einer Autobahn wird, mit Radiostationen als Raststätten und riesigen rot-weiß-getreiften Pylonen als Antennen. Ich stehe am Rande der Radio-Autobahn, eine ebenso lange Pfeife im Mund wie Jacques Tatischeff, wundere mich über die Geschwindigkeit, mit der der Fortschritt an mir vorbei saust und weit und breit ist kein Salvador Dalí in Sicht. Und auch wenn das jetzt nur ein Traum war, so war er für mich in dieser Nacht in meinem Kopf doch wahr.

So endete für mich der elfte Tag meiner Reise.

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