Losung am 9. August: „Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.“ (Hermann Hesse)
Destination: Wertheim am Main
Wir schreiben das Jahr 2002. Es ist der vorletzte Tag meiner kleinen Europareise. Ein Tag, an dem ich mir die Zeit nehme, um meine Geschichten der letzten Tage und Wochen in meinem ThinkPad auf- und be- und zu überarbeitenden, den aber auch ich in Gänze einem Menschen widmen möchte, der, obwohl er Deutscher war, in seinem Innern kein Deutscher war, weil er in sich den europäischen Kontinent vereinte, dazu noch Asien und Nordamerika und… – aber alles der Reihe nach.
Meine Frau hatte sich bei mir beklagt, weshalb ich in meinen siebzehn Tagen , die ich in Europa unterwegs bin, stets den Toten hinterherreisen würde. Wertfrei betrachtet hat sie da völlig recht und so richtig erklären kann ich das weder ihr, noch mir, noch Ihnen, lieber Leser / liebe Leserin. Denn auch der Mann, um den sich in meiner heutigen Geschichte alles dreht, weilt bereits seit langer Zeit nicht mehr unter uns. Er starb heute von vierzig Jahren in Montagnola in der Schweiz.
Aber meine Frau hat dann auch wiederum nicht recht, denn es sind ja auch die lebendigen Europäer, die ich auf meiner Reise immer wieder beobachtet und beschrieben habe. Sie sind neben den Legenden in „17 Tage Europa“ sogar omnipräsent, was ja auch Sinn macht, denn Europäer haben sich im Grunde in ihrem Wesen, dem Lokalpatriotismus und dem Verhalten in den vergangenen Dekaden und vielleicht sogar Jahrhunderten nur wenig verändert, mit der AUsnahme, dass sie nun eben auch Europäer sind. Beeinflusst werden sie natürlich durch die politischen Entwicklungen, aber ebenso durch die Kunst. Egal ob es Musik ist, Literatur oder Malerei: all das beeindruckt das Leben von Menschen in ganz erheblichem Maße und bis zur Jahrtausendwende waren dies in der Mehrzahl europäische Künstler. Da Vinci oder van Gogh, die Beatles oder die Stones, Shakespeare oder Goethe …
In dieser Reihen gab es auch noch den Mann, der am 2. Juli 1877 in Calw geboren wurde und mit seinen Geschichten und Gedichten die Welt so verzauberte und veränderte, dass ihm ein Jahr nach Ende des II. Weltkriegs der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Heute, in Wertheim am Main, am 40. Todestag des Mannes, sitze ich unter Bäumen dund lese auch aus seinen Büchern, die es im wahrsten Sinne des Wortes in sich haben.
Schon die Familienverhältnisse im Hause Hermann Hesses waren ebenso kompliziert wie interessant. Fast könnte man versucht sein, ihn als Pendant zu Thomas Mann zu sehen, ist seine Familie doch ebenso faszinierend, als es die Manns oder die hieraus hervorgegangenen „Buddenbrooks“ sind. Und tatsächlich hatte es die Vorfahren von Hermans Vater Johannes von Lübeck aus in die Welt gezogen; Johannes Hesse selbst war in Estland geboren. Als Missionar arbeitete sein Vater später u. a. in Indien und lernte dort seine Frau Maria kennen; beide Elternteile von Hermann Hesse arbeiteten in Indien für die Basler Mission.
Die Welt, in die Hermann Hesse im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hinein geboren wurde, war kompliziert. Als Sohn eines baltischen Vaters war Hermann von Geburt an Russischer Staatsbürger, lebte mit seinen Eltern aber im schwäbischen Städtchen Calw, in dem sein Großvater „residierte“, wie Hesse es später einmal bezeichnete. Immer noch mit Kontakten in die ganze Welt ausgestattet, war der Großvater eine Art Mysterium für die vom Pietismus geprägten Calwer (Anm.: Der Pietsmus ist die wichtigste Reformbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus), vor allem wenn aus aller Herren Länder Besuch kam: merkwürdig gekleidete Menschen, die in unbekannten Sprachen mit dem Großvater plauderten. Für den jungen Hermann war es so, als ob der Großvater seine „Spione“ empfangen und ausfragen würde.
Die Großmutter allerdings, eine gebürtige Schweizerin, sprach mit Hermann und dessen Geschwistern stets nur französisch und blieb den Kindern deshalb bis zu ihrem Tode im Jahre 1885 eine Fremde. Und doch hatte sie mit dem Rest der Familie eines gemeinsam. Auch sie blieb, ebenso wie Vater und Mutter Hesse und Hermann selbst, während ihres Lebens unangepasst in ihrer schwäbischen Zwischenheimat; alle waren „höfliche, aber sehr fremde und wenig verstandene Gäste im Schwarzwald“, wie es Hermann Hesse später auf den Punkt brachte. Doch war sein Opa keineswegs streng zu ihm, ganz im Gegenteil: dem Enkel stand stets die gewaltige Bibliothek des belesenen und gelehrten Großvaters offen, welcher sich Hermann intensiv annahm. Diese Werke der Weltliteratur waren die Grundlagen „für ein Gefeitsein gegen jeden Nationalismus“, wie Hesse z.B. anlässlich der Verleihung des Nobelpreises verriet.
Sein Vater dagegen hatte konträre Pläne mit dem angehenden Dichter. Hermann solle das renommierte evangelisch-theologische Seminar in Maulbronn besuchen, ein Internat, so bestimmt er. Der Sohn fügt sich und beginnt 1891 nach bestandenem Landexamen die Studien in Maulbronn. Anfangs enthusiastisch, dann zögerlicher und schon im darauffolgenden März, entflieht er den Mauern, da er sich dort eingeengt und eingeschnürt fühlt. Auf freiem Feld wird er aufgegriffen, zurück geführt und muss Maulbronn doch umgehend aufgrund seiner „Charakterschwäche“ verlassen.
Es folgt eine schwere Zeit für den jungen Autor. Drei Monate nach dem Rausschmiss besorgt sich Hesse einem alten Revolver und will sich damit erschießen oder möchte „hingehen in das Abendrot“, wie er es poetisch ausdrückt. Der verrostete Revolver funktioniert nicht, Hesse erleidet einen Nervenzusammenbruch und wird zuerst in die Anstalt Bad Boll eingewiesen, später in die Nervenheilanstalt in Remstal. Dort arbeitet er als Gärtner und unterrichtet geistig behinderte Kinder. Auch die Ideen zu seinem Gedichtezyklus „Bäume“ entstehen hier.
Wieder bei voller Gesundheit wird er entlassen und bricht unverzüglich mit seiner Familie – „Ich rettete mein Leben…“ (Hesse) – und macht eine Mechanikerlehre in der Calwer Turmuhrenfabrik Perrot. Die eintönige, immer gleiche Arbeit führt dazu, dass sich Herman Hesse wieder der Literatur zuwendet und 1895 eine Lehre in einer Buchhandlung beginnt, die er mit aller notwendigen Ernsthaftigkeit betreibt, da er sich mit dem dort zu verdienenden Geld die Unabhängigkeit von der Familie verschaffen kann.
Nach Abschluss der Ausbildung publiziert Hermann Hesse seine beiden ersten eigenen Werke, doch die Bücher werden ein finanzieller Mißerfolg. 1899 zieht er nach Basel, arbeitet dort in einem Antiquariat und schreibt weiter seine Geschichten: das Buch „Hermann Lauscher“ und der Roman „Peter Camenzind“ erscheinen. Hesse publiziert nun auch in Zeitungen und Zeitschriften, findet in Samuel Fischer einen neuen Verleger und kann von nun ab von der Schriftstellerei leben. 1904 heiratet Hesse seine erste große Liebe Maria Bernoulli, die in Basel als selbstständige Fotografin arbeitet. Drei Söhne werden geboren: Bruno, Hans Heinrich und Martin. Hesse ist jedoch in dieser Zeit oft auf Reisen. In Indonesien, Ceylon oder Indien entstehen die Ideen für Herman Hesses spätere Romane und Erzählungen wie dem“Glasperlenspiel“ – zuhause ist seine kleine Familie alleine.
Durch die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg (Hesse selbst war wegen seiner gesundheitlichen Probleme, physischer und psychischer Art vom Kriegsdienst befreit) entwickelt er sich zum Kriegsgegner und Befürworter der Wehrdienstverweigerung. 1917 verfasst Hermann Hesse seinen Roman „Demian“, der 1919 veröffentlicht wird. Es ist ein Entwicklungsroman, der viele Parallelen zu Hesses eigenem Leben hat und den ersten Weltkrieg mit einbezieht.
Nach Ende des Weltkrieges verliebt sich Hesse neu und hat eine Affäre mit Ruth Wenger, der Tochter einer Schriftstellerin; seine Frau Maria muss hingegen mit schweren Depressionen in ärztlicher Behandlung. Hermann Hesse blendet die Familie aus, zieht 1919 ohne seine Frau und die Kinder ins Tessin, schreibt dort seinen Indien-Roman „Siddhartha“, der 1922 erscheint. Maria Hesse erkennt in der Romanfigur „Kamala“ (die Siddhartha in alle Geheimnisse der Liebe einführt) die Geliebte ihres Mannes wieder und lässt sich daraufhin scheiden.
Hesse (der 1923 Schweizer Staatsbürger wurde) und Ruth Wenger heiraten 1924. 1927 veröffentlicht er mit dem „Steppenwolf“ sein bis heute erfolgreichstes Buch. Im selben Jahr erkennen Hermann und Ruth, dass sie – abgesehen von der erotischen Anziehungskraft aufeinander – kaum gemeinsame Interessen haben und beide reichen die Scheidung ein. Der Dichter wendet sich nun einer seiner Verehrerinnen zu, die bereits seit 1909 in brieflichem Kontakt mit ihm stand: Ninon Doblin – sie wird später seine dritte Ehefrau.
1930 schreibt und veröffentlicht Hesse seine Erzählung „Narziß und Goldmund“, kurz danach beginnt er mit der umfangreichen Arbeit für „Das Glasperlenspiel“. Im Dritten Reich wirbt Hesse für die Bücher von Autoren, die von den Nazis verfolgt oder bedrängt werden. Schon bald traut sich kaum noch eine deutsche Zeitung, Artikel von ihm zu publizieren. Auch diese Eindrücke fließen in „Das Glasperlenspiel“ ein, ebenso die Schrecken des II. Weltkriegs.
1943 wird das „Glasperlenspiel“ in der Schweiz publiziert und dies bildete die Grundlage für das, was dem Schriftsteller nur drei Jahre später widerfuhr: der nach eigener Einschätzung „… größte literarischen Erfolg, den ein Dichter haben kann“. Hermann Hesse wurde der Nobelpreises für Literatur verliehen. Nach diesem einzigartigen Moment siener persönlichen geschichte, dem Triumph über alle Hindernisse, Probleme und auch über seine Zweifler, ging seine Produktivität zurück. In den 1950er Jahren veröffentlichte der inzwischen fast Achtzigjährige nur noch kurze Erzählungen und Gedichte. Auch die gesundheit spielte nicht mehr mit. Als er am 9. August 1962 – er war an Leukämie erkrankt – einem Hirnschlag erliegt, achtet man ihn weltweit als Dichter des Zeitgeistes, ausgehend vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Oder wie es Thomas Mann einst über Hesses „Demian“ ausdrückte: „Dies ist eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine Jugend, die wähnte, aus ihrer Mitte sei ihr ein Künder ihres tiefsten Lebens entstanden.“
Nach seinem Tode wurden die Werke von Hermann hesse auch im anglo-amerikanischen Raum verstärkt gelesen, durch Künstler wie den Musiker-Poeten Bob Dylan der jugendlichen Generation nahe gebracht und bildeten in der Hippie-Bewegung der später 1960er Jahre eine Alternative zur Erweiterung des Bewusstseins in Zeiten des Vietnam-Krieges. Nicht umsonst wurde „Born To be Wild“ der Musikgruppe „Steppenwolf“ (die sich ihren Bandnamen natürlich bei Hesse entliehen hatte) zur Hymne einer ganzen Generation.