Losung am 6. August: „Es gibt schlimmere Verbrechen, als Bücher zu verbrennen. Eines davon ist, sie nicht zu lesen.“ (Ray Bradbury)
Destination: Callantsoog / Groote Keeten
Der Dienstagmorgen bringt eine Überraschung: In einem wolkenlosen blauen Himmel brennt die Sonne und es ist fast so heiß wie in Südfrankreich. Das ist zumindest ungewöhnlich, nach dem leichten Regen der letzten Tage. Heute will ich die einzelnen Küstendörfer inspizieren. Zwischen Den Helder und dem etwa 40 Kilometer südlicher gelegenen Alkmaar gibt es eine Menge davon. Von unten nach oben sind dies Orte wie Bergen und Schoorl, Camperduin, Petten und Sint Maartenzee, Callantsoog (auf dessen Zeltplatz ich nochmals genächtigt habe), t’Zand, Groote Keeten und Julianadorp. Und genau hier möchte ich Eindrücke und Ideen für ein Buch sammeln, das auf einem anderen Buch aufbaut, das ich als Kind abgöttisch geliebt habe: James Graham (J. G.) Ballards „Die 1000 Träume von Stellavista (und andere Vermilion Sands Stories“ aus dem Jahre 1971.
Ballards Sammlung (die im Original nur „Vermilion Sands“ heißt / deutsch: „Zinnober Strand“ … ich schrieb es lange wie die „Million“ mit Doppel-L – ein Faux-pas, der 1991 ebenso dem Ex-Tangerine Dream Musiker Christopher Franke unterlief) beinhaltet SF-Geschichten, zu denen ich schon ein Vierteljahrhundert zuvor als junger Musiker Lieder und Liedtexte schrieb, darunter 1977 „Fable Man“ und „Drakeman“ für mein damaliges Bandprojekt „Melvin Dawson and Friends“. Seit Mitte der Neunziger Jahre wollte ich eine eigene Geschichtensammlung zusammenstellen, die eine Fortsetzung des Buches werden sollte (… sozusagen „VS revisited“ …), aber es kamen dabei nur zwei Geschichtenfragmente dabei heraus: „Das Herrenhaus“ und „Sünder Bay“. Zu meinen Schriftsteller-Glück fehlte mir vor allem die Inspiration für den heruntergekommenen Küstenort „Vermilion Sands“, mit seinen roten Sanddünen, ganz so wie man sich den Mars vorstellt, auf den sich die Menschen ab und an hinträumen und dessen rote Oberfläche inzwischen ja von den Fotos der Raumsonden „Viking“ und „Pathfinder“ bestätigt wurde.
Inspiriert hat mit nun zur Jahrtausendwende eine kanadische TV-Doku über den immer weiter austrocknenden Salton Sea in Kalifornien mit Orten wie Salton City, Desert Shores und Bombay Beach. In den 1950er und 60er Jahren war dies der größte künstliche See des US-Bundesstaats, der jährlich Hunderttausende Besucher anzog, doch leidet der Tourismus seit Jahrzehnten darunter, dass Wasser in Kalifornien knapp ist und kaum noch etwas davon im See ankommt, da es anderswo zur Bewässerung gebraucht wird. Dadurch mussten bereits viele der Hotels am Seeufer, dass sich immer weiter Richtung Seemitte zurück zieht, geschlossen werden und mittlerweile verlassen sind. Ebenso bedrückend wie beeindruckend konnte man in der Dokumentation den Verfall vieler Gebäude und Anlagen um den Salton Sea erleben. Ich war noch nie in Kalifornien, aber das Ganze faszinierte mich und im hier und heute an Hollands Küste sammele ich nun Inspirationen und Eingebungen für die nächsten fünf Kurzerzählungen meiner Geschichtensammlung, die ich „Tausand Träume“ nennen werde.
Am Abend tippe ich diese Zeilen in meinen IBM-Laptop, der bereits mit einer feinem Sandschicht überzogen ist, die der Nordseewind auf ihn geweht hatte, während ich mir tagsüber meine einzelnen Geschichten am Strand ausdachte. Und – voilà – hier ist auxch mein Name für den Küstenort, an dem die „Tausand Träume“ Wirklichkeit werden: Zinnoberon – liebevoll Zino genannt. Diesen Küstenort gibt es irgendwo in der Zukunft und er erhielt den Namen von der Farbe seiner Sandstrände und Dünen. Auch in der Umgebung von Zinnoberon wirkt alles wie eine Landschaft auf dem Mars, wäre da nicht der azurblaue Himmel und das tiefblaue Meer. Diese Kombination aus Rot und Blau hat Zinnoberon einst berühmt gemacht.
Viele Jahrzehnte lang war Zino der globale Trend-Urlaubsort schlechthin und aus der ganzen Welt zog es die Schönen und Reichen nach Zino, um dort einen Teil ihres Jahres in wohliger Dekadenz zu verbringen. Doch die „rot-blau-goldenen Zeiten“, wie sie genannt wurden, sind nun auch schon einige Dekaden her. Das Meer zieht sich langsam von Zinnoberon zurück, der Ort rutschte daher in der Beliebtheitsskala ab, brachte sogar schon fast die Phase des Massentourismus hinter sich, doch die ansässigen Ur-Einwohner, man nennt sie Cyber-Hippies, träumen trotzdem weiter von der guten alten Zeit. Dies allerdings im Angesicht zunehmender Gewalt, Umweltzerstörung, Entfremdung in der Region und einem allgemeinen Unbehagen angesichts der nur noch scheinbar funktionierenden Gesellschaft, die sich in Wirklichkeit schon fast überlebt hat. Hier – sozusagen als kleine Appetithappen – eine kurze Abhandlung der verschiedenen Plots für einzelne „Tausand Träume“-Geschichten:
Kurzgeschichte # 1: DRAKEMAN, DER DRACHENMANN (… baut auf den Liedtext von 1977 auf!) = Wendell Southworth III., genannt „Drakeman“, ist noch keine sechzehn Jahre alt. Seit seinem 12 Lebensjahr fliegt Wendell, sobald der Wind stark genug weht, nur mit einem einzigen Seil am Boden fixiert, in einem Spezialanzug durch die Luft am Strand vor Zinnober und er verbessert den Anzug immer weiter. Waghalsige Flugabenteuer sind seine Spezialität. Viele Mädchen bewundern ihn und schauen aus Spaß seinen Flugkünsten zu, von den reichen Urlaubern die ihm zuschauen, sammeln seine Helfer am Boden jedoch Geld ein. Drakeman macht sich jedoch nichts aus Geld oder Bewunderung. Ein alter Indianer hatte ihm von „El Nondo Mondo“erzählt, DER Windböe, die es nur ein einziges Mal im Leben gibt und die einen Menschen, der das Fliegen so wie Drakeman beherrscht, um die ganze Erde tragen kann. Das ist Wendells Tausand Traum: Wenn „El Nondo Mondo“ kommt, dann wird er in der Luft sein, das Seil kappen und einfach davonfliegen. Nicht für Geld, nicht für die Bewunderung über seinen Mut, sondern nur für sich ganz allein. (Übrigens: Zur Recherche für diese Geschichte habe ich letztes Jahr mit Norman Lausch gesprochen, einem bekannten Extrem-Gleitschirmflieger aus Jena.)*
Kurzgeschichte # 2: SÜNDER BAY (Diese ist bereits beendet!) = In der Sünder Bay baden – wie es der Name schon andeutet – bevorzugt Sünder, denn man erzählt sich, dort könne man sich von seinen Sünden reinwaschen, dann, wenn der Milchmond über Zinnoberon scheint. Doch wo bleiben die Sünden danach? Wirklich im Meeresboden versunken, wie es die Legenden besagen? Oder treiben sie vielleicht beim Sturm aufs Meer hinaus, wie einige Seeleute es berichten?
Kurzgeschichte # 3: ALS DER GROSSE REGEN KAM = Eines Tages fing es in Zino, das normalerweise nur einen Regentag pro Jahr hat, einfach so zu regnen an und es hörte und hörte und hörte nicht auf. Zuerst finden das alle spaßig, dann aber, als viele Gäste ihre Buchungen stornierten, machen sich die Bewohner von Zinnoberon Gedanken, warum es zu dem Regen kam: sollte er etwa eine Gottesstrafe sein? Während geschäftstüchtige Einwohner aus der Not eine Tugend machen, die Stadt kurzerhand in „Zinnobad“ umtaufen und ihre Gäste mit neuen Angeboten wie Regentanz und Wassertropfenmassagen anlocken, geht James Graham, einer von Zinos Ur-Einwohnern, der Sache auf den Grund. Was er herausfindet ist gar nicht gut für die Stadt.
Kurzgeschichte # 4: SYMBIOSE = Die Law & Order Company ist seit einem Jahr in der Stadt. Sie sucht in der Nähe der drei großen Dünen nach Gold, erst vergeblich, doch schließlich findet sie es auch. Es dauert nicht lange und ganz Zinnoberon wird von Glücksrittern heimgesucht. Officer Maurice Millier von der Beachpolice kommen Zweifel an den Goldfunden, er vermutet sogar einen großangelegten Schwindel. Überrascht stellt er fest, dass die L&O-Company von einer jungen Frau namens Stacy Grove geführt wird, der alle Männer zu Füßen liegen. Er ist sich sicher, die Frau früher schon einmal gesehen zu haben und entdeckt dabei, dass sie vor vielen Jahren als alte Dame in Zinnoberon gelebt hat und eine Art „Symbiose“ durchlief. Doch auch Maurice Millier verfällt Stacy und erkennt, dass sie sein Schicksal sein wird. Am Ende ist Stacy Grove genauso schnell aus Zinno verschwunden, wie sie zuvor nach Zino gekommen war. Nur für Maurice hat sich das ganze Leben verändert. Er sucht verzweifelt nach Gold und nach Stacy.
Kurzgeschichte # 5: ZIRKUSDELPHINE = Die Idee für die Geschichte entstammt einer Zeitungsmeldung der 1990er Jahre: Der Wanderzirkus „Playa Marina“ zieht durchs Zinnober-Land nach dem Motto: Man nehme einen Bagger, grabe ein Loch in den Sand, lege das Loch mit einer Folie aus und lasse ein paar tausend Liter Wasser hineinfließen. Dann kippe man eine gute Prise Kochsalz und Chlorid hinein und fertig ist das Delphinarium, in dem die Zirkusleute Delphine und Seelöwen tanzen lassen. Schon bald nach der Ankunft von „Playa Marina“ in Zinnoberon hat das Mädchen Solitude Visionen. Sie erkennt, dass die Delphine des Wanderzirkus geistigen Kontakt mit ihr aufnehmen: sie berichten ihr, dass sie tagsüber stundenlang in sengender Hitze in einem winzigen dreckigen Wasserloch apathisch ausharren müssen und nur deswegen am Abend als Ausgleich Kunststücke vollführen: Bälle fangen, durch brennende Reifen springen, im seichten Wasser tanzen. Solitude beschließt, dass den Delphinen geholfen werden muss.
Kurzgeschichte # 6: DIE WELLENREITER VOM ZINNOBER-STRAND = Am Strand von Zinnoberon gibt es einen neuen Sport: Das Wellenreiten auf dressierten Rochen, deren Abrichten extrem teuer ist, weshalb sich diesen Sport nur die Superreichen leisten können. Jeden Abend sitzen einige tausend Menschen am Strand und beobachten den bizarren Wettstreit, bei dem Wetten angenommen und viel geld gewonnen oder verloren wird. Bei den Bartlau-Brüdern Burt und Ron, die zwar den gleichen Vater haben (Ray Bartlau ist Milliardär und DER Getränkebaron des Landes), jeder der beiden hat aber eine andere Mutter, ist der Ehrgeiz erwacht, den anderen zu besiegen, selbst wenn sein Tod der Preis für den eigenen Sieg sein sollte. Nicht einmal der Vater und die Mütter können etwas dagegen ausrichten. Und so kommt es eines Tages unweigerlich zum Showdown am zinnoberroten „Love Beach“.
Kurzgeschichte # 7: DAS HERRENHAUS (Diese ist bereits beendet!) = Häuser können Geschichten erzählen, so sagt man. In machen Gebäuden spuken Gespenster umher – auch das weiß man. Was aber, wenn Häuser ihre wahren Geschichten erzählen und hierzu einen shakespearesken Spuk veranstalten? Auch hiervon erzählt einer meiner Storys aus „Tausand Träume“.
Alles in allem wurden es, wie ich in aller Bescheidenheit finde, großartige Plots für atemberaubende Geschichten eines neuen Buches über meinen Lieblingsküstenort der Zukunft: Zinnoberon. Ausgedacht und niedergeschrieben am Strand von Groote Keeten an eben diesem 6. August 2002.
Und nach einem unglaublichen rot-glühenden Sonnenuntergang – ein Gewitter war im Anmarsch und durch den einsetzenden leichten Regen wurde der Sonnenuntergang immer flammender (… vielleicht aber auch als Erinnerung an ein Ereignis in Japan, das vor 47 Jahren stattfand und an das heute im Radio mehrfach erinnert wurde). Heute schlafe ich erneut im Auto-Hotel, denn das Zelt ist wegen des Gewitters bereits verstaut, müde und zufrieden ein. Der Regen plätschert auf das Autodach und ich denke an Zinnoberon und natürlich an „Als der große Regen kam“.
* = Norman Lausch war ein in Jena geborener Gleitschirmpilot, der seit 2000 an nationalen und internationalen Wettbewerben teilnahm. Mit dem deutschen Nationalteam wurde er 2005 Vizeweltmeister. Lausch arbeitete als Testpilot für Gleitschirmhersteller und verunglückte am 15. Juni 2005 bei einem Testflug in der Schweiz tödlich.