TAG 1: 25.07.2002 ||| JENA/BAYREUTH/STUTTGART/BADEN-BADEN

Losung am 25. Juli: „Der Blick über die Welt hinaus ist der einzige, der die Welt versteht.“ (Richard Wagner)

Reiseroute (… na klar …): Jena / Bayreuth / Stuttgart / Baden-Baden


Es ist Donnerstag und meine Abreise aus der kleinen Großstadt an der Saale ist um 13 Uhr, doch nur zwei Stunden und rund 150 Kilometer später steige ich in Bayreuth schon wieder aus meinem Auto aus. Warum so schnell eine erste Pause? Es ist im Grunde ganz einfach: Weil hier und heute die Wagnerschen Passionsspiele beginnen.

Hier ist der Ort, an dem die Zeit stehen geblieben scheint, seit dem der Meister persönlich 1872 auf dem Festspielhügel die Wurzeln für ein grunddeutsches Missverständnis legte. Nirgendwo auf dieser Erde treffen so viele Menschen aufeinander, die sich dem Kulturerbe als notwendigem Übel hingeben und sich dabei selbst inszenieren. Wer Wagner ist, warum er war wie er war und was er wollte – wen interessiert das hier, jetzt und in Bayreuth schon? Entscheidend ist die Tatsache, dass jedes Jahr etwa 600.000 Menschen den Passionsspielen beiwohnen wollen aber nur 60.000 hereingelassen werden. Hier und jetzt und in Bayreuth überhaupt ist ‚…dabei sein…‘ wirklich ALLES. „Ich bin dabei, Du bist dabei und er/sie/es sind draußen geblieben. Wie schade! – Sag mal, wie lange geht der Ring heute? Weil wir gerade beim Ring sind: Mein Mann hat sich diesmal, wieder mal, nicht lumpen lassen. 20.000 hat mein neuer Ring gekostet. Hatte ich Dir davon schon erzählt?“

Was hier zählt und erzählt wird ist Geld und Macht und Rock’n’Roll – letzteres ausschließlich bezogen auf die Kleider und die von Ihnen zu kaschierenden Essensreste an den Hüften der Damen. Die Männer hingegen spielen in Bayreuth ganz andere Rollen. Da ist zum Beispiel der Parteichef, unverkennbar in Siegfried-Manier, hinter ihm steht im Sommer-Loch schon sein Hagen und schmiedet gar boshafte Pläne. Und dort steht auch Tristan, der Isolde gerade an einen Wurstfabrikanten verloren hat und sehnlichst auf eine neue Gespielin wartet. Ah ja, da hinten kommt Parsifal, der gute Ritter, dem in ein paar Wochen seine Affären, Schulden (oder waren es unerlaubte Hilfsmittel zur Leistungssteigerung?) zum Verhängnis werden. Seine Rüstung – noch glänzt sie im Sonnen- und Blitzlicht – hätte er da dringend nötig, mehr als jemals zuvor in seinem Leben. Aber wo ist sie denn? Und wer ist der, der sich hinten in einer Ecke platziert hat? Man kennt ihn vom Fernsehen als C-/D-/E-Promi. Keiner hat ihn eingeladen, aber einer wie er, kommt doch immer irgendwie rein. Und er redet und redet. Man hört, wie er sagt, er habe „megamäßigen“ Erfolg, Und dabei lügt er noch nicht einmal. Was „mäßig“ ist, das weiß man. Um zu wissen, was „megamäßig“ ist, braucht man nur ihn anzusehen. An so einem kommt derzeit niemand vorbei, jedenfalls im Boulevard-TV. Höchstens Tannhäuser. – „Wie bitte…Tannhäuser?“ – „Helmuth Tannhäuser, natürlich.“ – „Äh, Tann…“ – „Jetzt sagen Sie bloß, Sie kennen den neuen Staatsminister für Sonderaufgaben noch nicht?“ – „Nein.“ – „Dann wissen Sie ja auch noch gar nicht, dass Tannhäuser gerade seine Frau und die Kinder verlassen hat und jetzt mit der Schauspielerin…“ – „Ah ja?“ – „Und Krawattenmann des Jahres ist er auch noch.“

Deswegen kommen sie doch alle nach Bayreuth. Wer interessiert sich von der Mehrzahl der Promi-Besucher schon wirklich für Wagner? Die Musik ist ein Marathonlauf, die Aufführung langweilig und die Inszenierung versteht sowieso keiner der Anwesenden wirklich. Sado-Masochismus in Rheingoldkultur sozusagen. Und dann erst die Familie Wagner höchstselbst. Natürlich verwundert es nicht, dass die Nachfahren und -fahrerinnen des Meisters die Intrigödie zu ihrem Lebenselixier werden ließen. Wer schon jede Menge Kultur im Blut hat, der darf sich (sozusagen als Ausgleich) auch so richtig daneben benehmen. Kinder, Enkel, Urenkelinnen, UrUrUrUrsöhne und -töchter gibt es ja genug.

Hier in Bayreuth erkennt man auch, warum TV-Serien wie ‚Dallas‘ und die ‚Schwarzwaldklinik‘ eingestellt werden mussten. Nein, nicht, weil der Stoff für Drehbücher ausgegangen war oder das Interesse des Publikums nachgelassen hätte. Alles Quatsch. Man konnte die Tantiemen nach Bayreuth nicht mehr bezahlen, wo alles, was im Fernsehen in Seifenopern gezeigt wurde, zuerst passierte. Was hier während der Festspielzeit tagtäglich an Urheberrechten produziert wird, entspricht durchaus Richards Genie-Quote. „Die Wagners schlagen zurück“, „Wagners Erben“ und „Die Rückkehr der Wagners“: klassische Filmthemen mit absoluter weltweiter Erfolgsgarantie. Krieg der Titanen und Walküren als Kult-Urerbe. Und das waren jetzt nur „Die Wagners“. Von den einsamen Politikern („Der arme Kerl. Wurde von seiner Sekretärin einfach so vergewaltigt. Und nun hängt sie ihm auch noch ein Kind an.“), den gierigen Lobbyisten („If you got the money, I’ve got the time“), den mediengeilen Mediengeilen ganz zu schweigen. In Bayreuth herrscht hinter vorgehaltener Hand Krieg an allen Medienfronten. Bayreuth / Beirut? – Beirut / Bayreuth?

Wie bitte: Ein Vergleich, der nicht zu funktionieren scheint? Gut, im Libanon sterben oder starben echte Menschen. Traurig genug, aber wie Shakespeare einst dichtete „Auf Dinge, die nicht mehr zu ändern sind, muss auch kein Blick zurück mehr fallen!“ Aber in Bayreuth weiß man vorher, dass alles ein Spiel ist – jedermann und jede Frau weiß das. Und in einem Wagner-Spiel, da sterben anstelle der echten Menschen stellvertretend die Protagonisten. Und am Ende der Tragödie stehen sie alle wieder auf, verneigen sich vor dem Publikum und treten ab. Nach 37 Vorhängen. DAS ist die wahre Kunst. Der Franzose schreibt „la capitale du Liban“ in diesem Sinne sogar schon richtig aus: „Beyrouth“.

Mein Reisegefährt: Das „Hotel zum Stern“

Deshalb führt mich meine Reise gleich am ersten Tag nach Bayreuth. Nicht dass ich wirklich bei der Eröffnung der 91. Richard-Wagner-Festspiele dabei sein möchte. Es geschieht alles sozusagen solidarisch. Ich bin präsent, dort wo ES passiert. Die kulturgeschwängerte Luft will ich einsaugen. Und möglichst schnell wieder ausatmen. Denn sonst kostet es mich vielleicht noch etwas. Vielleicht eine Atemluftbenutzungsgebühr? Gerade erdacht im bayerischen Kopf des Herrn Tannhäuser. Und das wäre so verwunderlich nicht, da die 30 Veranstaltungen der Festspiele mit mehr als fünf Millionen Euro jährlich subventioniert werden. Das sei viel Geld denken Sie? Weit gefehlt. Bayreuth ist hier mit nur 40 % Subventionierung fast schon ein Vorzeigeobjekt der Kulturszene. Andernorts wird Oper und Theater mit bis zu 90 % gefördert. Daran sieht man wieder einmal, wie gut sich Kunst rechnet, wenn alle hinwollen und es einem Gnadenerlass des jüngsten Gerichts nahe kommt, eine Eintrittskarte ins Wagnersche Paradies zu erhalten. Und um mit Tucholsky zu enden: Ein Sitzplatz möchte es schon sein.

Zu gleicher Zeit, wenn es heute Abend in Bayreuth losgeht mit dem Rummel, bin ich schon wieder unterwegs und betreibe gerade Autobahnen-Forschung in Richtung Stuttgart. Gegen 22 Uhr folgt dann eine Übernachtung bei Baden-Baden in meinem eigenen „Hotel zum Stern“. Und morgen geht es dann weiter nach Frankreich. Ganz gemächlich. Mit einer kleinen Zwischenstation in einem Ort, der so ähnlich heißt wie meine Heimatstadt: Offenburg.

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