Losung am 3. August: „L’espace de l’esprit, là où il peut ouvrir ses ailes, c’est le silence.“ / „Der Raum des Geistes, an dem er seine Flügel öffnen kann, das ist die Stille.“ (Saint-Ex)
Die heutige Reiseroute: Verdun / Metz / Saarbrücken
Ich habe Verdun gesehen. Zwar gilt 3D vielen als neuzeitliche Innovation, doch tatsächlich wurde die Kunst der Stereofotos schon vor dem 1. Weltkrieg erfunden. Und so entstanden auch in der Hölle von Verdun eine große Zahl stereoskopischer Aufnahmen, von denen ich als Kind mit Zustimmung meines Großvaters, dessen Vater wiederum zwischen 1914 und 1918 im Kieg war, diesen aber relativ schadlos überstand, einige anschauen durfte und zwar durch eine Blechbrille blickend. Nachgefragt, wann und wie mein Urgroßvater die Fotos erworben hatte, habe ich nie, aber das dürfte wohl in den 1930er Jahren gewesen sein, als in Deutschland die Technik- und Kriegsbegeisterung mit jedem Jahr zugenommen hatte.
Dann habe ich Verdun besucht. Als angehender Jugendlicher gemeinsam mit meiner Familie und mein Vater und mein Onkel erzählten fachkundig das eine oder andere Detail über Schlachten und Kriegsgerät. so wurde ich über die „Dicke Berta“ informiert und den kräfte- und moralaufzehrenden Stellungskampf rund um Fort Douaumont. Und ich sah das Beinhaus um ersten Mal und träumte ind er Nacht darauf von Bergen an Knochen und Schädeln. Nun habe ich Verdun erneut besucht. Schon gestern Abend war ich kurz vor Geschäftsschluss im Stadtkern mit seinen Geschäften. Verdun ist eine schöne kleine Stadt mit schönen kleinen Geschäften und einem schönen kleinen Yachthafen. Verdun liegt nämlich an der Meuse, die so ausgesprochen wird, wie ein weibliches Geschlechtsorgan in der Deutschen Sprache. Um Irritationen schon jetzt vorzubeugen sei gesagt: Für die Deutschen hieß der Fluß hier schon immer anders. „Von der Maas bis an die Memel …“ heißt es in einer Strophe im „Lied der Deutschen“, die wir heute nicht mehr singen wollen/sollen, und die Meuse ist – na klar – die Maas.
Etwas erschreckt hat es mich schon, dass gleich nach dem Ortseingangsschild mit dem schaurigen Namen (aha, denkt man, jetzt ist man also da!) die zu einem unsäglichen gelben „M“ geformten Bögen eines amerikanischen Fast-Food-Riesen zu sehen sind. Kann das passen? Ein Hamburger-Restaurant gleich neben blutdurchtränkten Schlachtfeldern? Aus der heute gemachten Erfahrung heraus, kann ich bereits jetzt sagen: es kann und das sogar ganz gut, den zumindest die Jugend von Verdun hat ihren eigenen Frieden gemacht mit der Geschichte und hätte wahrscheinlich schon fast vergessen, was in ihrem Ort, in ihrer Stadt irgendwann einmal passiert ist, wenn, ja wenn, sie nicht auf jedem Zentimeter ihrer Heimatstadt daran erinnert werden würde. Die aktuelle Botschaft aber lautet: „Verdun, la vie“ / „Verdun, Leben“. Sie ist überall zu lesen und soll wohl den Fluch des Todes, der mit dem Ortsnamen verbunden ist, besiegen.
Es scheint für Verduns Stadtväter (… und natürlich auch Stadtmütter, denn, da war doch was mit „egalite“ oder?) gute Gründe zu geben, dies immer und immer wie ein Mantra zu wiederholen. So galt es für mich herauszufinden, was an der Sache dran ist. Also fange ich einmal ganz von vorne an: Weshalb verbindet man auf der ganzen Welt den Namen und den Ort „Verdun“ mit dem Gegenteil von Leben?
EIN KLEINER AUSFLUG IN DIE WELTGESCHICHTE
Sommer ist es, als 1914 in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau ermordet werden und ein mörderisches Schachspiel entbrennt. Am 28. Juli 1914 erklärt das Kaiserreich Österreich-Ungarn dem Staate Serbien den Krieg. Russland steht Serbien bei und erklärt umgehend Österreich den Krieg. Deutschland steht Österreich bei und der Deutsche Kaiser Wilhelm der II. von Gottes Gnaden erklärt erst Russland den Krieg und heute vor genau 88 Jahren, am 03. August 1914, auch der Französischen Republik.
Als Deutschland einen Tag später auch noch das bis dahin sich neutral verhaltende Belgien überfällt, greift England in den Krieg gegen Österreich-Ungarn und Deutschland ein – ein Weltkrieg ist entstanden; weitere Länder folgen, darunter die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika.
Bei Verdun will die deutsche Kriegsmacht nach Frankreich vorstossen, um nach Überwindung der französischen Verteidigungslinien schnell Paris zu erreichen, wie man das 1870/71 bereits einmal geschafft hatte. In Verdun steht deshalb auch die Hauptmacht der französischen Defensive und leistet erbitterten Widerstand. Die Truppen des Kaisers rennen sich fest: ein Stellungskrieg entbrennt, bei dem der jeweilige Sieger immer nur wenige hundert Meter weit vordringen kann – um dann verlustreich wieder zurückgedrängt zu werden. Das geht nicht nur einen Tag lang so, eine Woche oder einen Monat, nein, es wird Jahre lang so fortdauern.
Der Erste Weltkrieg fordert insgesamt bis zu seinem Ende im Herbst 1918 über 10 Millionen Menschenleben und wegen des Einsatzes von Giftgas, Flammenwerfern und Splittergranaten noch einmal doppelt so viele Verwundete. 30 Millionen Opfer hat der Doppelmord eines einzigen Attentäters der bosnisch-serbischen nationalistischen Bewegung zur Folge. Und dabei zählten Verdun und sein Fort Douaumont zu den schrecklichsten Orten dieses Landkrieges.
Das Fort Douaumont zu bauen kostete die Französische Republik einst 6,1 Mio. Francs in Gold und es war damit eines der teuersten Kriegsanlagen der Franzosen. Fort Douaumont bot einer Garnison von 417 Soldaten und 6 Offizieren Raum. 1913 war es fertig geworden. Aus taktischen Gründen beschließt die französische Armeeführung rund ein Jahr nach Kriegsbeginn, das Fort mittelfristig aufzugeben, die Garnison wird langsam aufgelöst, die Vorräte aufgebraucht, die Munition mitgenommen. Kanonen und Geschütztürme werden ebenfalls entfernt und man lässt die Deutschen das Gelände um das Fort einnehmen.
Am 21. Februar 1916 war die Sache abgeschlossen und bereits am 25. Februar 1916 konnten sich Deutsche Soldaten ungehindert in Fort Douaumont bewegen. Allerdings begannen die Franzosen ab dem 26. Februar 1916 Fort Douaumont Tag um Tag mit jeweils fast 4.000 Schuss vom Kaliber 155 bis 400 zu beschießen. Am 08. Mai 1916 kommt es während des Beschusses der Franzosen in den Katakomben von Fort Douaumont zu einer Katastrophe.
In das für maximal 500 Soldaten ausgelegten Fort sind in den Tagen zuvor immer mehr verwundete Deutsche Soldaten gebracht worden. Fast 2.000 Deutsche sind an diesem 08. Mai 1916 in Fort Douaumont. Früh am Morgen erschüttert eine starke Explosion das Fort; ein Granatendepot war explodiert und hatte ein in der Nähe untergebrachtes Flammenwerferdepot entzündet. Eine Feuerwalze bewegte sich in Sekundenschnelle durch die unterirdischen Gänge es Forts. 800 bis 900 Soldaten verloren innerhalb von Minuten ihr Leben. Außerhalb des Forts konnte diese Menge an Leichen wegen des französischen Beschusses nicht bestattet werden. Deshalb wurden sie auf Befehl des Deutschen Oberkommandos in zwei Kasematten gelegt und eingemauert.
Durch Spione von dieser Schwächung des Forts unterrichtet, verstärkten die Franzosen ihre Angriffe und ab dem 22. Mai 1916 gelang es ihnen, das Gelände um Fort Douaumont Meter für Meter und unter erheblichen eigenen Verlusten an Soldaten zurück zu erobern. Es dauert noch bis zum 24. Oktober 1916, bis das Fort wieder ganz in der Hand der Franzosen ist und bleibt.
Unweit des Forts befinden sich die Gedenkstätte mit den großen Soldatenfriedhöfen und das sogenannte „Beinhaus“. In Beinhaus liegen die Gebeine von 130.000 Soldaten, die in seinem unmittelbaren Umfeld gestorben sind. Ich fahre durch einen Wald, der das Ortsschild „Douaumont“ trägt. Hier war vor dem ersten Weltkrieg das Dorf gewesen, welches dem Fort seinen Namen gegeben hatte. Während der Kämpfe um das Fort, vor allem aber beim Rückzug der Deutschen Soldaten, war das Dorf – wie es so schrecklich heißt – „…dem Erdboden gleichgemacht…“ worden. Und man sieht genau hier, was diese Floskel bedeutet; das Dorf wurde nie wieder aufgebaut.
Am Ende des Waldes wird es urplötzlich wieder hell um mich herum. Jetzt sind das Beinhaus und Abertausende von Steinkreuzen zu sehen. Vor dem Beinhaus angekommen steige ich aus und habe einen Überblick auf das Gelände, dessen Erde fast drei Jahre lang im wahrsten Sinne des Wortes blutgetränkt war. Hier also haben sich die schlimmsten Tragödien des Krieges abgespielt, in den Frankreich von Deutschland vor genau 88 Jahren gezogen worden war. „Silence“ / „Stille“ fordert man im Innern des Beinhauses vom Besucher obwohl das beinahe nicht notwendig ist: Es fehlen einem die Worte!
Die Überreste von vielen Zehntausend Menschen, mehr als alle Männer und Frauen und Kinder jeder kleineren Großstadt in Deutschland oder Frankreich, sind hier in diesem einen Haus gesammelt worden. „Wer zählt die Völker, nennt die Namen?“ scheint Schiller zu rufen und Bob Dylan antwortet ihm „The answer, my friend, is blowin in the wind. The answer is blowin in the wind.“ – Aber da war doch noch etwas, denke ich. Etwas, das ich als Jugendlicher dreißig Jahre zuvor hier gesehen und was mich seit damals nicht mehr in Ruhe gelassen hatte.
Wieder vor dem Beinhaus schaue ich minutenlang ratlos am Sockel entlang. Wo sind die kleinen Fenster am Sockel des Beinhauses, denke ich. Und als ob er geahnt hätte, was ich suche, winkt mich ein älterer Mann zu sich. Auf französisch flüstert er mir etwas mit konspirativer Stimme zu, das ich nicht verstehe. Trotzdem nicke ich kurz und knapp und flüstere „Oui!“.
Zusammen laufen wir um das Beinhaus herum und etwa in der Mitte zwischen dem Seitenflügel und der Basilika geht er plötzlich auf die Knie und ich tue es ihm gleich. Und richtig, hier, auf der Rückseite des Beinhauses sind sie, die Fensterchen, die es dem Betrachter erlauben, einen Blick in das Dunkel unter der Treppenflucht des Beinhauses zu wagen. Da liegen sie: Die Überreste der 130.000 Gefallenen. Knochen, Schädel, Rippen, Gebeine, Finger- und Fußglieder, Wirbel, Hüften, Gelenkknochen. Ich bekreuzige mich und er tut es mir gleich. Wir, damit meine ich den unbekannten Franzosen und mich, schauen sie an und die Augenhöhlen der Schädel und es scheint, als ob sie auf uns zurückblicken. Und verbinden schon wieder alles miteinander. Für immer. Auch mich und den Franzosen, der denken muss, ich sei ebenfalls Franzose, sein Landsmann. – In diesem Moment erkenne ich, warum und wofür „Verdun lebt“: hier sind wir beide nicht Deutscher und Franzose. Wir sind Europäer!
Am Abend verlasse ich die Stadt und fahre über die Autoroute nach Sarrebruck – ohne irgendeine Grenzkontrolle. Ich muss daran denken, dass dies zu der Zeit undenkbar schien, als die 130.000 Soldaten noch lebten. So ändern sich Zeiten und Menschen. Und trotzdem heilt die Zeit nicht alle Wunden. Da hilft auch kein amerikanisches Schnellrestaurant. Und das ist auch gut so. Gegen 23 Uhr komme ich in Saarbrücken an und schlafe wieder im Hotel Stern auf einer Raststätte „… am Ende des Universums“, (um an dieser Stelle noch eine kleine Hommage an den im letzten Jahr verstorbenen Schöpfer von „Per Anhalter durch die Gelaxis“ einzubauen). Denn genau diese Raststätte ist nur wirklich am Ende, denke ich beim Einschlafen und versuche die Toten zu vergessen – wenigstens für diesen einen Moment. Wie alle Menschen, die in Verdun waren habe ich natürlich den Wunsch, dass sie dort in Frieden ruhen mögen und natürlich in
Stille!