TAG 6: 30.07.2002 ||| ABSTECHER ANS MEER, OHNE ES ZU BETRETEN

„Vissersboten op het strand van Les Saintes-Maries-de-la-Mer“ (Vincent van Gogh, 1888 / Van Gogh Museum Amsterdam)

Losung am 30. Juli: „Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele, und niemand kommt, um sich daran zu wärmen.“ (Vincent van Gogh)

Die heutige Reiseroute: Chalon-sur-Saône / Mâcon / Lyon / Orange / Arles / Saintes-Maries-de-la-Mer


Blick von Mâcon über die Saône zur Église de Saint-Laurent am 30.07.2002

Hätte Frankreich einen Äquator und links wäre die Atlantikküste mit La Rochelle und rechts die Schweiz mit dem Genfer See, dann länge Mâcon genau auf dieser Äquatorlinie und zwar rund 60 Kilometer nördlich von Lyon. Über Mâcon lässt sich wenig berichten, die Liste der wichtigen Kinder der Stadt ist übersichtlich und die seiner Historie noch kürzer, also hat man sich in „la republique“ darauf verständigt, dass genau in dieser Stadt der Süden Frankreichs anfängt, Mâcon damit sozusagen die Ehre hat, der nördlichste Punkt Südfrankreichs zu sein oder der südlichste des Nordens und zugleich mein Zwischenstopp am heutigen Vormittag.

Ich erfahre, das Mâcon vor vier Tagen Ankunftsort der vorletzten Etappe der Tour de France ’02 war: die Stadt hat es also tatsächlich geschafft, dass selbst ich hier bei wichtigen Dingen zu spät gekommen bin – ein Schicksal, dass ihre Einwohner wohl schon oft beklagten. Doch stolz wie echte Sportler durchqueren sie ihre Stadt. Selbstverständlich nicht auf dem Fahrrad, dafür gibt es schließlich die Tour, nein: Der junge urbane Franzose bewegt sich auf dem Motorrad oder Moped durch die Gassen, dies mit irrwitziger Geschwindigkeit und natürlich gekonnt. Die junge urbane Französin hingegen zieht da eher das Automobil vor, denn sollte sie auf dem Sozius eines motorisierten Zweirads sitzen, dann bestimmt nicht lange – das bedingt schon allein das 1. Newtonsche Gesetz der Schwerkraft. Deshalb fährt sie Automobil und dies mit der gleichen irrwitzigen Geschwindigkeit wie ihr männliches Pendant. Dass beide keine schweren Unfälle verursachen, ist im Grunde nur logisch und liegt in der Natur der Sache: beide bewegen sich so schnell im Straßenverkehr, dass die Chance eines Zusammenpralls reziprok zur Geschwindigkeit abnimmt. Selbst wenn beide den innigen Wunsch hegen sollten, irgendwann einmal aufeinander zu treffen. Rein liebestechnisch, versteht sich.

Den Pont Saint Laurent, eine Steinbrücke über die Saône, muss man gesehen und fotografiert haben (… was sonst …), wenn man in Mâcon Station gemacht hat. Damit mir dieser Ort unvergesslich bleibt, kaufe ich dort eine Armbanduhr mit rechteckigem Gehäuse. Das kommt unverkennbar aus dem Art Déco und war zu dieser Zeit ein Symbol des besonderen Luxus. Auch ich lasse mich nicht lumpen, investiere satte, frischgedruckte, 9 Euro 99 und bekomme dafür auch noch eine neue Batterie spendiert. Auf der Landstraße geht es für mich dann zur Mittagszeit weiter gen Süden. Nicht, um die Maut zu sparen, sondern wei sie nicht so stark befahren ist wie die Autobahn und man dort auch viel mehr sehen kann. Je weiter ich ehemaligen Herrschaftsgebiet von Karl dem Kühnen Richtung Mittelmeer vorstoße, desto mehr Sonnenblumenfelder gibt es zu entdecken und natürlich solche voller Korn, die teilweise gerade frisch gemäht worden waren. Ich darf nicht vergessen zu erwähnen, dass es nach wie vor heiß ist. Genauso wie damals, als manche Menschen einen Künstler betrauerten, der gestern vor 112 Jahren verstorben war und Sonnenblumen ebenso mochte wie Kornfelder.

Auf meiner Reiseroute des heutigen Nachmittags liegen laut „Le Figaro“ sogar die heißesten Orte Frankreichs an diesem 30. Juli 2002. Dazu zählt neben Lyon, dem Ort, an dem die Saône in die Rhône mündet (oder eher umgekehrt?), mit Orange, die Stadt, der die Niederländer ewig dankbar sind, denn ohne sie gäbe es die Oranier nicht. Deren britischer Zweig marschiert jedes Jahr ja relativ geräuschvoll durch Belfast, der niederländische Stamm regiert aber seit dem Abfall von Spanien (… geschehen auf den Tag genau vor 421 Jahren – man lese es nach bei Friedrich Schillers grandiosem Jenaer Frühwerk „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischem Regierung“ …) relativ gelassen das Land der Windmühlen und somit auch die Heimat des erwähnten betrauerten Künstlers und kreierte den orangefarbenen Oranje-Kult. So erklärt sich auch der Oranje-Wahlspruch „Je maintiendrai“, der folgendes beinhaltet: „Ich werde bewahren … die Tugend und den Adel, meines Namens Hoheit, die Ehre, den Glauben, das Gesetz von Gott, König, meiner Freunde und mir.“

In der Stadt Orange – ich sause hier und heute aus Zeitgründen schnell hindurch – waren im Altertum die Römer zuhause und es gibt dort noch ein fast unbeschädigtes Amphitheater, das der Europäer des 21. Jahrhunderts „Open-Air-Bühne“ nennen würde. Das Amphitheater in Orange hat noch die originale Spielfläche und einen echten römischer Augustus-Kopf gibt es hier. All das hat die Jahrtausende unbeschädigt überstanden und ich fand es im heißen und staubigen Orange, als ich es ein Vierteljahhundert zuvor mit meinen Eltern besuchte. Und in der Tat: es ist durchaus staubig geworden im Rhônetal, verglichen mit Burgund.

Eine Autostunde weiter südlich kommt man nach Arles, der Stadt, die der der sonnenblumen- und kornfelderbesessene Künstler so geliebt hatte. Wie oft er die Landschaft um Arles (bitte ohne „… es“ aussprechen) und um Arles herum in leuchtenden Farben auf Leinwände bannte, im Ganzen oder en „details“, lässt sich für mich nicht aufzählen. Vor allem, weil er oft ein altes Bild übermalte, falls ihm keine neue, frische Leinwand mehr zur Verfügung stand. Auch das 40 Kilometer weiter südlich in der Carmargue gelegene Städtchen Saintes-Maries-de-la-Mer, das den Schlussakkord meiner heutigen fahrt darstellt, liebte dieser Mann, malte hier eine Zugbrücke, dort ein paar Sträucher oder aber Fischerboote am Meeresstrand. Und da das alles jeweils nicht in Minuten stattfand, sondern Stunden dauerte (inklusive der notwendigen Fußwege voller Rückenschmerzen mit Staffelei und Malutensilien hin und zurück), kann man ihn in der Tat als naturverbunden bezeichnen … einmal umgeben von Grillen, dann wieder von den Vögeln und dem Wind, oder inmitten der Wellengeräusche und dem salzigen Algenduft.

Arles 2002-07-30

Saintes-Maries ist Wallfahrtsort der Gypsies, die viele Deutschen trotz Goran Bregovics „Time of the Gypsies“ und der musikalischen Erfolge der Gypsy Kings, nach wie vor verächtlich „Zigeuner“ nennen, was von „tziganes“ abgeleitet wurde, einer Variante der griechischen Bezeichnung einer Sekte der „Unberührbaren“, die im 9. Jahrhundert aktiv war und von der Kirche als Zauberer, Wahrsager „und arge Ketzer“ beschrieben wurde. Diese ur-römischen und damit ur-europäischen Menschen treffen sich in der Stadt der Heiligen Maria, waschen dort ihre Madonnastatuen in der seichten Brandung und es scheint hier gar nicht mehr so lange hin zu sein bis zur nächsten Wäsche, denn bei Lidl … (ja, ja, ich gebe es zu: Deutschland hat Europa durchaus mehr zu bieten, als nur Aldi-Märkte) … bei Lidl also, an der Avenue Foirail, war alles voller weiblicher Gypsies. Oder wie nennt man sie politsch korrekt? Gypserinas? Ich weiß das nicht und lasse es für den Moment damit gut sein. Jedenfalls sind auch die Damen anscheinend äußerst preisbewusst.

Zu meiner Schande muss ich hier meinem Reisetagebuch gegenüber auch noch gestehen, dass ich mich bei Lidl noch besser zurecht gefunden habe, als gestern bei Aldi, gab bei Lidl in Saintes-Maries doch aus meiner Sicht noch mehr Produkte mit heimischem Wiedererkennungswert, viele sogar mit deutschem Erstaufdruck und die französische Gypserina … Gypsieuse … Gypsy-Frau muss daher, sofern sie sies möchte, auf der Rückseite nachlesen, um was es sich bei dem angebotenen Produkt in Wirklichkeit handelt. Aber noch etwas ganz anderes stelle ich in Saintes-Maries fest: Hier, an der Mittelmeerküste, bei Lidl, kann man mit Kreditkarte zahlen und davon hatten die … äh Gypsyrianerinnen … eine Menge, aus denen sie schließlich die eine auswählten, die es dann an der Lidl-Kasse sein sollte. Jedenfalls an diesem Nachmittag an meiner Kasse.

Le jardin Lamartine 2002-07-30

Vielleicht sollte ich zusätzlich erwähnen, dass Arles auch nahe Marseille liegt, der Stadt von der die Franzosen die Marseillaise übernommen haben („Allons enfants de la Patrie, Le jour de gloire est arrivé!“) und die dafür als Dank jede Menge nordafrikanische Einwohner bekommen hat. Deshalb wundert es mich nicht, wenn bei Lidl neben – einigen wir uns jetzt bitte endgültig auf – Romanistinnen auch Nordafrikanerinnen einkaufen. Dies muss Lidl schon vorher gewusst haben, denn man kann dort im Supermarkt etwas erwerben, was ich sonst nur aus dem Feinkostladen kenne: Couscous. „Voorgekookt“ besagt die Packung und „eerste kwaliteit“. Das macht mich neugierig und ich lese nach. Tatsächlich stammt dieses Couscous nicht direkt aus Afrika, sondern wurde in Belgien für Lidl „geproduceerd“. Ah, denke ich, deshalb auch die Angaben über „Ingredienten“ und „Energetische waarde“ auf der Packung. – Ob’s die algerische Mutter mit drei Kindern und einem vierten im Bauch interessiert? Auf jeden Fall ist Arles aus meiner Sicht ein weiterer Beweis für das Zusammenwachsen Europas, jedenfalls, was das Essen betrifft.

Der heiße Tag geht langsamaber sicher seinem Ende entgegen und da darf ich nicht vergessen zu erwähnen, dass man auch nach Saintes-Maries-de-la-Mer fahren kann, ohne im Meer baden zu gehen. Mir war es jedenfalls viel zu voll am Strand und ich stand unter Zeitdruck, wollte unbedingt noch bis zum späten Abend in mein Zelt am Ufer der Saône zurückkehren – immerhin fünf Stunden Fahrt am Stück inklusive zwei 250-Milliliter-Dosen Red Bull. Fischerboote, wie bei Vincent, lagen keine im Sand und ins Meer gehen kann man woanders auch, so dachte ich. Viel interessanter war für mich die Tatsache, dass die jungen urbanen Französinnen und Franzosen hier mindestens noch einmal eine Ecke schneller unterwegs sind, als in Macon. Ob das an der Nähe zu Marseille und St. Tropez liegt oder an den Filmen des Cinema Noire mit Ventura, Delon oder Noiret? Ich kann darauf keine Antwort geben, denke aber dass sich vielleicht aus den dort gezeigten Verfolgungsjagden der ur-menschliche Jagdtrieb wieder ausgebildet hat und viele Franzosen denken wahrscheinlich, dass alle Welt denkt, dass Franzosen einfach so fahren müssen: schnell und wahnsinnig … äh, ich meinte natürlich … wahnsinnig schnell. Könnte darin nicht ein kleines Körnchen Wahrheit liegen? – Während ich das denke, gähne ich.

Ein Garten in der Plaine de la Camargue auf dem Weg nach Saintes-Maries-de-la-Mer

Was die geplante Rückfahrt betraf: es ist und war dieser vorletzte Tag im Juli ein wirklich heißer. Hinzu kam noch das Mittelmeer-Klima, salzhaltige Luft und die wirklich wunderschöne Landschaft, in der es an fast jeder Ecke etwas zu entdecken gab: Menschen, Dinge, Gebäude, Destinationen. Als es auf halb sieben am späten Nachmittag zugeht, spare ich mir zwei Dosen Red Bull und verschiebe meine Rückfahrt lieber auf den letzten Tag des Monats, genieße meine Zeit in Meeresnähe, schreibe noch ein wenig und übernachte schließlich in meinem Hotel Stern an der Mündung der Rhône.

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